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Handball in den Genen

Jerry Tollbring will bei den Löwen den nächsten Schritt in seiner bemerkenswerten Entwicklung machen

Darauf angesprochen, was der 21-jährige Jerry Tollbring von einem alten Haudegen wie ihm lernen könne, reagiert Gudjon Sigurdsson irritiert: „Was er von mir lernen kann? Sie sollten besser fragen, was ich von ihm lernen kann.“

Wenn ein Sigurdsson so etwas sagt, dann hat das Gewicht. Der Isländer zählt seit eineinhalb Jahrzehnten zu den besten Linksaußen der Welt, hat mit mittlerweile 38 Jahren jede Menge Erfahrung auf dem Buckel – und einige Talente kommen und gehen gesehen. Dass sein designierter Nachfolger auf dem linken Flügel bei den Rhein-Neckar Löwen Großes leisten wird, davon ist nicht nur „Goggi“ überzeugt.

„Ich denke, dass er nicht mehr viele Jahre braucht, um auf seiner Position einer der weltweit besten Spieler zu werden“, sagt Kristian Bliznac und prophezeit seinem schwedischen Landsmann eine ähnlich steile Karriere wie dessen Trainings- und Positionspartner Sigurdsson.

„Ein cooler, ruhiger Typ“

Bliznac ist wie Tollbring in diesem Sommer zum Löwen-Kader gestoßen. In der ersten Woche nach der Ankunft bei ihrem neuen Arbeitgeber kamen die beiden bei Torwart Mikael Appelgren unter – und betrieben für kurze Zeit die Heidelberger Schweden-WG der Löwen. Bliznac lernte Tollbring besser kennen: „Er ist ein cooler, ruhiger Typ.“ Beim gemeinsamen Essen habe er sich noch respektvoll im Hintergrund gehalten. „Gekocht haben Apfel und ich, Jerry hat ein bisschen geholfen“, sagt Bliznac.

Von den spielerischen Qualitäten des Ausnahmetalentes ist der Routinier überzeugt. „Für sein Alter ist er sehr cool vor dem Tor, eine echte Tormaschine. Er hat auch schon sehr viel Erfahrung gesammelt, unter anderem in der Nationalmannschaft und in der Champions League“, sagt Bliznac. Außerdem habe er einen guten Überblick, ein Gespür genauso für die erste wie für die zweite Welle. Technisch sei er sowieso ganz vorne mit dabei. „Er ist ein echtes Balltalent.“

Wenn der Floh zur Maschine wird

Gezeigt hat dies der junge Mann nicht nur in den bisherigen Duellen mit den Rhein-Neckar Löwen, die er im Trikot des schwedischen Spitzenteams IFK Kristianstad bestritt. Bei der Weltmeisterschaft in Frankreich Anfang dieses Jahres wurde Tollbring ins All-Star-Team gewählt, 2016 spielte er für sein Heimatland bei Olympia in Rio. Mit 82 Kilogramm auf 1,82 Metern Körpergröße ist er rein äußerlich ein Floh unter den meist deutlich größeren und wuchtigeren Handball-Spielern. Auf dem Feld allerdings wird aus dem Floh die von Kollege Bliznac beschriebene Maschine.

Dabei scheint es völlig egal zu sein, aus welchem Winkel Tollbring Richtung Tor zieht. Lässt der Torwart ihm nur ein paar Zentimeter zu viel Platz, knallt er den Ball ansatzlos ins kurze Eck. Die überragende Technik erlaubt ihm eine immense Bandbreite an Wurfvarianten, was es den Torhütern so schwermacht, zu berechnen, wohin der wieselflinke Jerry den Ball platzieren wird.  Dass er mit 21 Jahren schon dreimal schwedischer Meister geworden ist, sagt viel über Talent, Ehrgeiz und Entwicklung des Löwen-Neuzugangs. 

Lob vom Trainer

„Jerry ist für sein Alter schon sehr weit“, findet auch Nikolaj Jacobsen, der seit einigen Wochen für dessen sportlichen Werdegang verantwortlich ist. Der Trainer der Rhein-Neckar Löwen zeigt sich sehr zufrieden mit seinem jüngsten Neuzugang: „Bisher hat er einen sehr guten Eindruck gemacht. Er ist ein netter, lieber Junge, der gut trainiert und mit allen sehr gut klarkommt.“ Sportlich betrachtet könne man mit Jerry ohnehin nur noch an Kleinigkeiten feilen. Erfahrung fehle ihm aufgrund des Alters noch, so Jacobsen. Ansonsten lässt der Coach durchblicken, dass es in seinem Trainerleben schon durchaus größere Baustellen gab.

Den Spielertyp Jerry Tollbring beschreibt der Löwen-Trainer als „sehr schnell, mit einem sehr guten Sprung“. Dabei falle dieser im Vergleich zu den meisten anderen Spielern „atypisch“ aus: „Er springt zugleich sehr hoch und sehr weit. Zudem beherrscht er unheimlich viele Wurfvarianten, ist für sein Alter schon sehr clever und liest ein Spiel sehr schnell.“

Seine Ziele: gut spielen, oft gewinnen

Jerry selbst gibt sich im Gespräch bescheiden. Auf seine Stärken angesprochen, hebt er die Schnelligkeit hervor – und dass er gerne den Ball hat. Arbeiten möchte er insbesondere noch an seiner Physis, aber auch an der mentalen Stärke. Seine Ziele bei den Löwen: gut spielen und viele Spiele gewinnen. Das kann man so stehen lassen. In der Mannschaft habe er sich gut aufgenommen gefühlt. Seine Entscheidung für ein Engagement in Mannheim und Kronau-Östringen sei ihm nicht schwergefallen. „Das ist ein tolles Team, mit dem ich Erfolg haben möchte.“

Die sportlichen Wurzeln dieses Erfolgshungers liegen in Tollbrings Heimatland Schweden. Im rund 70 Kilometer nördlich der Hauptstadt Stockholm gelegenen Norrtälje geboren und aufgewachsen, feierte der Flügelflitzer seine ersten großen Erfolge mit Rimbo HK. Dort spielte er mit seinen Brüdern Ken und Jeff, Trainer war Papa Dick. Gemeinsam stiegen sie in die erste Liga auf – ein Riesenerlebnis für Jerry. Probleme ob der durchaus interessanten familiären Konstellation habe es nie gegeben.

Auch die Schwester spielt bei einer Meistermannschaft

„Das hat einfach nur Spaß gemacht“, sagt Tollbring, der sich als Familienmensch beschreibt und den sein erstes Jahr im Ausland – getrennt von seinen Lieben – vor eine besondere Herausforderung stellt: „Ich telefoniere regelmäßig mit der Familie, wenn es geht, einmal am Tag.“ Bei den Telefonaten dürfte das eine oder andere Wort über die sportliche Entwicklung in Deutschland fallen. Immerhin liegt Handball den Tollbrings in den Genen. Auch Jerrys Schwester Cassandra ist Profi-Spielerin, verdient ihr Geld beim norwegischen Meister Larvik HK.

Generell werde Bewegung innerhalb der Familie großgeschrieben. „Wir machen auch ansonsten viel Sport zusammen“, erklärt Jerry. Selbst wenn er es in seiner Freizeit einmal ruhiger angehen lässt, spielt Sport eine Rolle. Als leidenschaftlicher Playstation-Spieler sitzt Tollbring gerne an der Konsole. Gezockt werden Eishockey und Fußball, letzteres am liebsten mit dem englischen Traditionsklub FC Liverpool. Englisch ist derzeit auch die einzige Sprache, die der junge Mann neben Schwedisch einigermaßen beherrscht.

Deutsch soll so schnell wie möglich dazukommen, gelobt Tollbring. Generell falle es ihm nicht leicht, Sprachen zu erlernen, und so dürften ihm schweißtreibende Wochen bevorstehen – sowohl auf dem Handballplatz, als auch am Schreibtisch.