Rhein-Neckar Löwen

Mehr als Messi: Das Gesamtkunstwerk Andy Schmid

Andy Schmid #2 / RNL , Rhein-Neckar Loewen vs. HSG Wetzlar, RNL Saison 2019 / 2020, © Copyright: AS Sportfoto / Soerli Binder, www. as-sportfoto.de, MSP_0610_RNL_

Sportlich wie menschlich eine Ausnahmeerscheinung, nimmt der Schweizer Spielmacher der Rhein-Neckar Löwen seinen HBL-Hut und geht zurück in die Heimat – am 8. Juni verabschiedet er sich von den Fans in der SAP Arena

Andy Schmid beim Heimspiel gegen Balingen in der Saison 20/21.

Im Internet kursieren Highlight-Videos, von Fans zusammengeschnitten. Minutenlang kann man es sich anschauen: Pässe durch Räume, die nicht existieren. Schlagwürfe, die man nicht kommen sieht. Täuschungen, Wendungen, Verrenkungen der feinsten Sorte. Dabei immer elegant. Der etwas zu offensichtliche Vergleich mit Lionel Messi ist an einer Stelle richtig: Andy Schmid bewegt sich, genauso wie Messi, nicht wie die anderen Spieler. In seinen besten Momenten kann man sehen, dass man es hier mit etwas Übergroßem, etwas Nicht-Greifbarem zu tun hat.

Besagte Highlight-Videos sind mit wummernder Club-Musik unterlegt. Andy, der nach eigener Aussage nicht viel, aber wenn, dann richtig feiert, kann damit sicher leben. Bei seinen Toren in der SAP Arena läuft „I’ll be ready“ von Rock-Größe Jimi Jamison. Ein solider Song, dem die durchaus fragwürdige Ehre zuteilwurde, als Titellied der Serie Baywatch in die Musikgeschichte einzugehen. Er hätte dies auch als Andy-Schmid-Hymne tun können – so oft, viele hundert Mal, schallte der Refrain durch die Mannheimer Löwen-Höhle.

Andy sagte einmal, angesprochen auf die Song-Auswahl, er habe gedacht, dass dieser Text gut zu ihm passe. „I’ll be there“, singt Jimi Jamison voller Inbrunst im Refrain. „Ich werde da sein.“ Wie gut das passt, zeigt ein Blick auf diese Zahlen: In seinen 12 Löwen-Jahren hat Andy Schmid 7 Titel gewonnen. 398 Mal hat er bis dato für die Löwen in der Bundesliga auf dem Feld gestanden. Gehen wird er mit dem 400. HBL-Spiel in Magdeburg – beim frisch gebackenen Meister. Dann wird Andy Schmid auf 600 Spiele für die Löwen in der Liga sowie im DHB-Pokal und Europapokal kommen. Wie viel bis dahin auf die 2483 dabei erzielten Tore draufgerechnet werden muss, wird sich noch zeigen. Zuletzt netzte Schmid zehnmal beim Derby in Göppingen – bei gerade einmal einem Fehlwurf.

Andy Schmid und die zweite Halbzeit von Hamburg 2018

Andy Schmid schreibt nach dem Pokalsieg 2018 ins goldene Buch von Kronau.

Die Zahlen sind das eine. Das andere sind die Momente, die zu diesen Zahlen gehören. Die Tore von Andy Schmid waren nicht alle entscheidend. Aber von den entscheidenden Toren der Löwen hat Andy Schmid sehr viele erzielt. Ob die Löwen den DHB-Pokal auch ohne die 8 Schmid-Treffer in der zweiten Halbzeit gewonnen hätten? Als die vielgerühmte Löwen-Offensive ins Stocken geriet, Finalgegner Hannover so aussah, als habe er den Schlüssel in der eigenen Abwehr gefunden, da übernahm der damalige Kapitän. Sein Trainer und Freund Nikolaj Jacobsen hätte ihn nach einer schwachen ersten Hälfte anschreien können, wie er es sonst genauso häufig wie eindrucksvoll tat. Aber Niko, der Trainer, ließ Niko, den Freund, sprechen. „Niko hat mich in den Arm genommen und gesagt: Deine Mannschaft braucht dich jetzt. Und damit hat er, wieder einmal, die richtigen Worte gefunden.“

So ehrgeizig Andy Schmid auch ist, sich damit sogar selbst am besten im Wege stehen kann, so bewusst ist er sich seiner Rolle im Team. In seinem Kinderbuch, 2019 erschienen, schreibt Andy im Grunde seine eigene Geschichte. Wie er den Handball lieben lernte als eine Schule des Lebens. Nicht nur für den Körper, sondern genauso für den Geist. Vor allem aber für die Gemeinschaft. Sich gegenseitig anspornen, beflügeln, helfen. Sich messen, sich fordern, aber immer fair dabei bleiben. Der Held des Buches sieht, wie ein Junge der gegnerischen Mannschaft abseits sitzt und weint. Er geht zu ihm, fragt, was los ist. Wegen solcher Momente liebe er den Handball, sagt Andy. Wenn er vielleicht nur in einigen Facetten wie Messi ist, so ist er zu 100 Prozent der Gentleman des Handballs.

In bereits erwähntem Pokal-Finale packt er sich den späteren Mitspieler Mait Patrail. Der ist mindestens einen Kopf höher und doppelt so breit wie Andy. Aber Andy lässt nicht locker, auch als Patrail anfängt, ihn abzuschütteln wie eine lästige Fliege. Andy hält fest. „So habe ich den Schmid ja noch nie gesehen“, sagt der Kommentator. Tatsächlich wurde Andy Schmid sehr wahrscheinlich öfter zum MVP der Liga gewählt (fünfmal!) als für zwei Minuten vom Feld gestellt. In seiner Person fließt alles zusammen, was eine Sportgröße ausmacht. Talent, Fleiß, Charakter. Erfolg. Gepaart mit einem langen Leidensweg kann daraus so etwas wie ein Mythos werden. Der Schweizer mit den Storchenbeinen ist so oder so im Handball-Olymp angekommen.

Mehr als Messi: Das Gesamtkunstwerk Andy Schmid und der alptraumhafte Start

Frisch bei den Löwen, saß Andy Schmid häufig auf der Bank.

Angekommen bei den Löwen ist er erst nach mehr als einem Jahr. Alles ging schlecht los. Irgendwie wollte das „System Schmid“ in Mannheim nicht so recht zünden. Da waren andere im Fokus. „Weltstars“, wie Andy es in einem Wort zusammenfasst. In dieser Star-Truppe fühlte sich der auf Harmonie ausgelegte Schweizer überhaupt nicht wohl. „Es gab Spiele, da hieß es nach dem Aufwärmen: Heute kannst du von der Tribüne aus zuschauen“, erinnert sich Andy. Mit Mitte 20 hatte er vorgehabt, mit den Löwen den nächsten Schritt in der Karriere zu machen. Endlich am Traumziel Bundesliga. Es wurde zunächst ein Alptraum. Die Koffer gepackt. Der traurige Rückzug in die Heimat fast schon akzeptiert. Aber: nicht ganz.

Hier kommt wieder der Ehrgeiz ins Spiel. So wollte sich Andy Schmid nicht verabschieden. „Was hätte ich mir anhören können von den Leuten in der Schweiz, wenn ich so bedröppelt, wie ein geprügelter Hund, nach Hause gekommen wäre“, beschreibt Andy seine Gedanken damals. Er entschied sich fürs Bleiben. Fürs Beißen. Und er biss. Nicht nur bei ihm, im ganzen Verein begann ein Umdenken. Weg von den Stars, hin zu einer echten Mannschaft. Eine Mannschaft, die neue Leader brauchte. Neben dem Feld wurde das Gudmundur Gudmundsson, der Stück für Stück und Schritt für Schritt die reformierte Kader-Politik in eine dazu passende Spiel-Idee übersetzte. Auf dem Feld brauchte es dafür einen Mann, der nicht nur ein Spiel steuern, sondern lesen kann. Der immer ein bisschen früher weiß, was passieren wird oder muss. Und der dann – fast immer – die richtige Idee dazu hat.

Um Andy Schmid herum bauten die Löwen eine Mannschaft, die bald nicht nur mit den attraktivsten, sondern auch einen äußerst erfolgreichen Handball spielen sollte. 2013 EHF-Cup, danach zweimal Zweiter in der Bundesliga, dann 2016 und 2017 Meister, 2018 Pokalsieger. Dazu drei Supercups. Nur in der Champions League, da war es verhext. Regelmäßig raus im Achtelfinale, teils auf dramatische (Barcelona!), teils auf kuriose (Kielce!) Weise. „In dem Wettbewerb hat es einfach nicht sein sollen“, fasst Andy zusammen. Lange habe die Priorität darauf gelegen, endlich diese verflixte Meisterschale in Händen zu halten, die einem zweimal so unglücklich (2014 um zwei Tore, 2015 um zwei Punkte) durch die Finger geglitten war. Im DHB-Pokal brauchte es ganze elf Versuche, entstand ein zweites, noch größeres Trauma. Wenn man weiß, dass zu seinen Charakterzügen neben Ehrgeiz und Harmoniebedürfnis eine große Portion Emotionalität gehört, kann man sich in etwa vorstellen, wie es in dem Andy Schmid von damals gebrodelt haben muss.

Andy Schmid und die Nähe zur Besessenheit

Andy Schmid und Alex Petersson 2016 in Lübbecke: endlich Meister!

Dass er und seine Kollegen dieses Brodeln in zielgerichtete Energie verwandeln konnten in den Folgejahren, ist einer der wichtigsten Erfolgsbausteine dieser Löwen-Mannschaft. Mit Niko Jacobsen hatte man den idealen Trainer gefunden, die ideale Mischung aus taktischem Genius, grenzenlosem Siegeswillen und einer genauso großzügigen Herzlichkeit. Auf dem Feld gesellte sich zu spielerischer Klasse eine bedingungslose Grund-Motivation. „Fast schon eine Besessenheit“, nennt es Andy Schmid im Rückblick. Erfasst wurden davon alle Spieler, die damals frisch zu der Truppe stießen, wie Mikael Appelgren, Mads Mensah und Hendrik Pekeler. Gemeinsam mit dem Grundgerüst Andy Schmid, Uwe Gensheimer, Kim Ekdahl Du Rietz, Alexander Petersson, Patrick Groetzki und Gedeon Guardiola bildeten diese Jungs die Ur-Zelle des Löwen-Erfolgs der mittleren 2010er Jahre. 2017, beim für die zweite Löwen-Meisterschaft vorentscheidenden Gastspiel in Flensburg, habe er „vielleicht die reifste Leistung einer Mannschaft“ generell erlebt, sagt Andy heute. Dass er in dieser illustren Runde das Zepter schwingen durfte – eine größere Ehre kann es für einen Spielmacher nicht geben.

Diesmal waren es Weltklasse-Spieler und keine Weltstars, wie 2010 bei den Löwen. In einer echten Einheit fühlte sich Andy nicht verloren, sondern als natürlicher Anführer. Er entwickelte seine eigene Zeichensprache mit seinen Mitspielern. Die gegnerischen Abwehrreihen kapitulierten regelmäßig. Andy Schmid zog die Fäden, und alles tanzte nach seiner Façon. Fünfmal sah man in der stärksten Liga keinen Besseren weit und breit, wählte ihn zur Nummer eins. Ein Rekord ziemlich sicher für die Ewigkeit. Statt Freude und Stolz benutzt Andy Schmid, wenn er von Erfolgen und den damit verbundenen Gefühlen spricht, viel lieber das Wort von der Erleichterung. Andy Schmid ist ein Getriebener. Stellt sich die von ihm herbeigesehnte Harmonie dann ein, ist der Ehrgeiz gestillt, dann endlich brechen sich die Emotionen bahn. Fällt alles ab. Und das Schweizer Gemüt findet seine Ruhe.

Die Jahre nach den Triumphen haben am Charakter des Andy Schmid nichts verändert. Auch wenn es keine Titel mehr gab, stattdessen Höhen mit Tiefen sich abwechselten, die Löwen national und international bis auf einige Ausnahmen keine tragende Rolle mehr spielten. Andy Schmid blieb der Getriebene. Machte sich pausenlos Gedanken. Gab Interviews, in denen er die Probleme offen ansprach, Besserung einforderte und beklagte, dass es nicht recht voranging. Das gekrönte Haupt hielt er hin vor die Kamera, und legte die Stirn in Falten. „Keine leichte Zeit“, sagt er in der Rückschau und ergänzt: „Man kann sich nicht nur hinstellen ins Rampenlicht, wenn man Erfolg hat. Man muss auch den Kopf hinhalten, wenn es nicht läuft.“ Andy hat dies getan. Und er hat es wie ein Gentleman getan, mit ehrlichen Worten, nie beschönigend, wenn nötig auch brachial. Aber nie, ohne sich selbst in die Pflicht zu nehmen. Und nie so, dass sich auch nur ein Mensch persönlich hätte gekränkt fühlen können.

Mehr als Messi: Das Gesamtkunstwerk Andy Schmid am Mittwoch zum letzten Mal im Löwen-Trikot in der SAP Arena

Schmid 2019/20 beim Heimspiel gegen Kiel mit Ex-Löwe Reinkind.

Am 12. Juni 2022 verlässt Andy Schmid die Handball-Bühne Deutschland. Vorerst. Trainer will er werden, dieser Wunsch sei in den letzten Jahren immer weiter gereift, sagt er. Wen man auch fragt: Alle glauben, dass Andy ein hervorragender Trainer werden wird. „Er hat alles, was man dafür braucht“, sagt beispielsweise Maik Machulla, Trainer der SG Flensburg-Handewitt und einer der härtesten Schmid-Rivalen der vergangenen Jahre. Er freue sich auf ein baldiges Wiedersehen in der Bundesliga, sagt Machulla. Hinzuzufügen ist dem aus Löwen-Sicht nichts. Außer eines vielleicht.  

Es gibt noch wenige Karten für Andy Schmids letztes Löwen-Heimspiel am 8. Juni in der SAP Arena. The Last Dance of Mister MVP. Hier geht es zum Ticketshop.

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