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Der Schneeballeffekt

Karl-Heinz Mächtel schreibt die (Vor-)Geschichte der Rhein-Neckar Löwen seit über sechs Jahrzehnten mit

Karl-Heinz Mächtel in seiner Kronauer WohnungAlles begann mit einer Spielerei. In der Seestraße in Kronau, wo Karl-Heinz Mächtel mit seinen Eltern lebte, lag dichter Schnee. Die Kinder aus der Nachbarschaft trafen sich zu einer Schneeballschlacht, die weißen Kugeln zischten nur so durch die klirrend kalte Winterluft, das Plärren der Jungs und Mädels war weithin zu hören. Anton Hees, der in der Straße wohnte, wurde auf die Kinder aufmerksam – und ging spontan auf den damals zehnjährigen Karl-Heinz zu: „Du musst unbedingt zum Handball, Junge, so wie Du den Schneeball wirfst.“

Es war der Winter 1954/55. Deutschland hatte sich gerade zum Fußball-Weltmeister geschossen und auch der kleine Karl-Heinz zeigte Talent als Kicker. Doch Anton Hees, der damals in der ersten Handball-Mannschaft der TSG Kronau spielte, ließ nicht locker. „Er ist bei uns daheim vorbeigekommen, hat mit meinem Vater gesprochen und ihm nahegelegt, mich mal zum Training zu schicken“, erinnert sich Karl-Heinz Mächtel. Aus dem „Probetraining“ sollte eine bis heute währende Liebesgeschichte werden.

Mit 14 zur A-Jugend

Zunächst landete Karl-Heinz in der Schülermannschaft der TSG, mit 14 wechselte er zur A-Jugend. „Da war ich damals der Jüngste“, erzählt Mächtel. Nur drei Jahre später ging es zu den Senioren, mit 17 Jahren spielte er mit der ersten TSG-Mannschaft in der Bezirksklasse. Zwei Jahre später begann das Ausnahmetalent damit, sich als Co-Trainer bei den A-Junioren zu engagieren. Eine Leidenschaft, die er selbst dann noch weiter pflegte, als er mit dem TSV Rot in der Feldhandball-Bundesliga auflief.

Anton Hees hatte übrigens ein gutes Auge bewiesen: Der kleine Karl-Heinz entpuppte sich schnell als begnadeter Handballer, „ein klassischer Rückraum-Shooter, halblinks“, wie Mächtel sich selbst beschreibt: „Ich war schon ein ordentlicher Keuler mit einem mordsmäßigen Schuss.“ Sein Vorbild war Josef Karrer. Der spielte seit Jugendtagen für den ruhmreichen TV Großwallstadt, wurde 1966 mit Deutschland Feldhandball-Weltmeister. Karrer habe einen ordentlichen Bums gehabt, einen beeindruckenden Armzug. „Da habe ich mir gedacht, so will ich auch werfen“, berichtet Karl-Heinz Mächtel.

Während andere nach dem Training nach Hause gingen, legte der Kronauer Sonderschichten ein. „Wir sind dann in den Wald gegangen. An jedem Steher Holz haben wir angehalten und mit Baumstämmen trainiert“, erinnert sich Mächtel. Zudem habe er mit seinem Vater regelmäßig auf dem Sportplatz gestanden und Wurfübungen gemacht: „Aus 25 Metern habe ich die Bälle aufs Tor gedonnert.“

Wechsel zum TSV Rot in die Bundesliga

Das Engagement zahlte sich aus. Mächtel zählte zu den Leistungsträgern der TSG, erzielte regelmäßig die meisten Treffer und holte mit der A-Jugend 1963 erstmals die Kreismeisterschaft. Zwei Jahre später wiederholte er das Kunststück mit den Senioren – und rückte sich nachhaltig in den Fokus anderer Vereine. Als der Kronauer Nachbarverein TSV Rot 1967 in der neu gegründeten Feldhandball-Bundesliga an den Start ging, wechselte Mächtel das erste und einzige Mal den Klub und lief für die Roter in der höchsten deutschen Spielklasse auf. „Der Leistungssprung war für mich kein Problem, ich habe gleich wieder zu den besten Torschützen gezählt“, erinnert sich Karl-Heinz Mächtel.

An die Bundesliga-Zeit denkt er gerne zurück, unter anderem an die Auswärtsfahrten nach Schutterwald und Berlin. Bei Heimspielen strömten die Menschen zu Tausenden auf den Sportplatz in Rot. Mächtel selbst reiste damals regelmäßig zu Fuß an, kam mit Kinderwagen und Sporttasche durch den Wald zwischen Kronau und Rot marschiert. Als der TSV nach der Saison 1968/69 aus dem Oberhaus abstieg, beendete der damals 24-Jährige sein Engagement und ging zurück zur TSG, wo er sich fortan auf den schrittweisen Aufstieg der Handball-Abteilung konzentrierte.

Er selbst begleitete die erfolgreiche Entwicklung bis 1982 vom Feld aus, mit 38 Jahren feierte mit einem Spiel gegen Ferencvaros Budapest den Abschied vom aktiven Handball. Da spielten die Kronauer bereits in der Oberliga, nachdem der Übergang vom Feld- zum Hallenhandball nahezu nahtlos gemeistert worden war. Mächtel wirkte im Vorstand, als Spielausschuss-Vorsitzender, später als Obmann und „Mädchen für alles“, das unter anderem Auswärtsfahrten und Trainingslager plante.

Zum Aufstieg ein Auto für jeden

Die Aufstiegsmannschaft aus dem Jahr 2003. Karl-Heinz Mächtel steht in der hinteren Reihe als Dritter von linksDie badische Meisterschaft 1998 erlebte er in seiner Obmann-Rolle, auch den Titel in der Regionalliga im Jahr 2000 – damals noch als HSG Kronau/Bad-Schönborn. Nach der Fusion mit der TSV Östringen gelang dann endgültig der Sprung aus dem Amateur- in den Profibereich. Der krönende Abschluss war der Aufstieg in die Bundesliga 2003. „Damals haben alle Spieler quasi als Geschenk ein Auto bekommen. Wir hatten eine tolle Mannschaft, zum Beispiel den Mariusz Jurasik, das war ein echter Pfundskerl“, sagt Karl-Heinz Mächtel.

Dass es nach dem zwischenzeitlichen Abstieg und Wiederaufstieg recht kontinuierlich weiterging mit der positiven Entwicklung – inklusive Ausgliederung der Profi-Abteilung und Umbenennung in Rhein-Neckar Löwen –, findet Mächtel noch heute erstaunlich. Vom Kreismeister bis zum Deutschen Meister: „Das dürfte in Deutschland ziemlich einmalig sein.“

Karl-Heinz Mächtel selbst ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Geschichte, so wie letztlich die ganze Familie. Neben ihm selbst haben noch je zwei Brüder und Schwestern Handball gespielt. Auch die Kinder waren in der TSG aktiv, aktuell ist mit den Enkelkindern bereits die dritte Generation aus dem Hause Mächtel für Kronau am Ball. „Unsere Kinder sind ja auch praktisch auf dem Handballplatz groß geworden“, begründet Christiane Mächtel die Familien-Leidenschaft.

Auswärtsfahrten quer durch Europa

Sie selbst musste als Frau von Karl-Heinz zwangsläufig mitziehen – und hat ihren Platz in der Gemeinschaft schnell gefunden. „Es war und ist eine schöne Zeit, die ich so nicht missen wollte“, sagt Christiane Mächtel und erinnert an Auswärtsfahrten nach Barcelona, Szeged oder Nantes. Nostalgisch werden sie und ihr Mann dabei nicht. Im Gegenteil: „Ich hätte gerne damals schon die Möglichkeiten gehabt, die den Jungs heute zur Verfügung stehen. Wenn ich den Kraftraum im Sportzentrum sehe, denke ich: Menschenskind, was hätte ich da alles machen können.“

Vor ein paar Jahren hat sich Karl-Heinz Mächtel auch aus seiner letzten Funktion als Obmann beim Verein zurückgezogen. Heute ist er „nur“ noch Fan, fährt, so oft er kann, mit zu den Auswärtsspielen. Bei den Heimspielen in der SAP Arena steht er mit den Fanclub-Mitgliedern der Baden Lions im Block, verfolgt mit großer Leidenschaft die Partien seiner Löwen. „Die Baden Lions wurden übrigens dahinten gegründet“, sagt Mächtel und deutet durch seinen Wintergarten in Richtung jenes Gartenhäuschens, in dem 2002 der Fanclub seinen Ursprung nahm.