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Löwen-Gegner Hüttenberg: Vollzeit-Arbeiter, Studenten und ein paar Profis

Am Donnerstag kommt Aufsteiger TVH in die SAP Arena

Geschichte und Geschichten – dafür steht Aufsteiger TV 05/07 Hüttenberg in der Handball-Bundesliga. Dass der Club aus Mittelhessen Gründungsmitglied des Oberhauses ist, bis 1985 stolze 15 Jahre in der Beletage und Ende der siebziger Jahre sogar im Europapokal am Ball war, wissen heute nur noch die Spezialisten und älteren Semester.

Für Nikolaj Jacobsen ist das allerdings kein Grund, den Liga-Neuling auf die leichte Schulter zu nehmen. Respekt hat er vor dem hohen Tempo, das er als taktisches Mittel der Hüttenberger vor allem im Angriff erwartet, sowie von der 3:2:1-Abwehr, die so in der Liga kein anderes Team praktiziert. Für den Mittwoch zwischen dem grandiosen 35:23-Erfolg über Hannover-Burgdorf sowie der Eroberung der Tabellenspitze am Dienstag und dem Duell mit Hüttenberg am Donnerstag hat der Coach der Rhein-Neckar Löwen eine taktische Trainingseinheit angesetzt. Ansonsten heißt die Devise in der „Monsterwoche“ Regeneration auf allen Ebenen: „Ich habe den Jungs gesagt, dass sie jede Stunde, die sie extra für Schlaf investieren können, auch dafür nutzen sollen“, hatte Jacobsen vor dem Wahnsinnsprogramm mit insgesamt vier Spielen in sieben Kalendertagen gesagt. Sein Sportlicher Leiter richtete nach dem Hannover-Spiel noch einmal einen Appell an die Fans. „Ich kann nur dafür werben, nach Kiel und Hannover die Mannschaft auch gegen Hüttenberg zu unterstützen und in die SAP Arena zu kommen. Die Mannschaft zahlt es auch zurück“, versprach Oliver Roggisch. Karten für die Partie am Donnerstagabend, 5. Oktober, um 19 Uhr gibt es online und an der Tageskasse, die um 17.30 Uhr öffnet. Einlass ist dann eine Stunde vor Spielbeginn um 18 Uhr. 

Der Gegner ist dabei deutlich attraktiver, als die aktuelle Tabellensituation mit Platz 16 aussagt: Neben den historisch Interessierten sind auch die übrigen Handball-Fans an den jüngsten Schlagzeilen über den TVH kaum vorbeigekommen, da den Hüttenbergern mit ihrer zweiten Bundesliga-Rückkehr nach 2011 ein Novum in der deutschen Handball-Historie gelungen ist: Die Spieler um Trainer Adalsteinn Eyjólfsson schafften im Juni diesen Jahres in einem Herzschlagfinale nicht nur den Aufstieg, sondern setzten dabei auch einen neuen Rekord, den es so seit dem Bestehen der eingleisigen Zweiten Bundesliga noch nicht gegeben hatte – einen Durchmarsch von der Dritten Liga in das Handball-Oberhaus. „Es ist einmalig, was die Mannschaft geleistet hat. Das ist ein Märchen“, sagte Hüttenbergs Sportlicher Leiter Thorsten Menges nach dem Coup, und Rückraumspieler Tomás Sklenák staunte ebenfalls: „Ich habe 2016 bei unserer Aufstiegsfeier gesagt: Jungs, wir feiern hier noch mal. Aber ich hätte nie im Traum daran gedacht, dass es tatsächlich diese Feier sein wird.“

Vollzeit-Arbeiter und Studenten

Mittlerweile sind die Hüttenberger aus dem Traum erwacht und stellen sich der Realität in der stärksten Liga der Welt, in der sie der Außenseiter Nummer eins sind. Mit einem Etat von rund 1,3 Millionen Euro hat der TVH die geringsten finanziellen Mittel und auch der Kader weist seine Besonderheiten auf. Zwar wurden mit Tobias Hahn (HSG Wetzlar), dem 19-jährigen polnischen Leih-Spieler Szymon Sicko (Chrobry Glogow/KS Vive Tauron Kielce) und dem montenegrinischen Linkshänder Vladan Lipovina (al-Nasr Sports Club) drei zusätzliche Profis unter Vertrag genommen, doch im Kader gibt es auch einige Studenten, andere haben eine halbe Stelle, manche arbeiten sogar Vollzeit. Spieler wie Dominik Mappes und Moritz Lambrecht haben den Verein sogar nie verlassen und es von den Minis bis in die Bundesliga geschafft.

Das Team aus Mittelhessen ist laut Trainer Eyjólfsson „die einzige Amateurmannschaft der Bundesliga“. Dennoch will Hüttenberg mehr als nur Kanonenfutter sein, auch wenn die 1969 gegründeten Blau-Roten mit der nötigen Portion Realismus an die Herausforderung Bundesliga-Handball gehen. Für Coach Eyjólfsson stehen deshalb zu allererst Charakter und Moral im Vordergrund. „Unsere wichtigste Aufgabe ist es, nie die Hoffnung zu verlieren. Wir müssen mit Rückschlägen umgehen und immer wieder aufstehen“, sagte der Isländer vor der Saison dem hr-Fernsehen. Im Hinterkopf lebt allerdings der Traum vom Klasenerhalt. „Wir sind natürlich nicht chancenlos. Wir haben einen guten Teamgeist und sind eingespielt.“ Die Punkte müsse sein Team gegen die Tabellenplätze zwölf bis 18 der Liga holen, obgleich die Schlagerspiele gegen die Rhein-Neckar-Löwen oder den deutschen Rekordmeister THW Kiel zu Publikumsmagneten in der Ausweichspielstätte „Sporthalle Gießen-Ost“ werden dürften.

Mit dem Bus nach Wetzlar – wegen zehn Kilometern

„Wenn wir den Klassenerhalt schaffen, dann dürfte das in der bisherigen Handball-Geschichte sicherlich beispiellos sein“, betont Eyjólfsson immer wieder gerne die Außenseiter-Rolle seiner Truppe. Es wäre wieder so eine Geschichte, die vielleicht nur der TVH schreiben kann. Und durch den Aufstieg des Clubs, für den schon die schwedische Linkshänder-Legende Staffan Olsson am Ball war, gibt es schließlich auch aus lokaler Sicht ein kleines Kuriosum: Bis zur Spielstätte des mittelhessischen Rivalen HSG Wetzlar sind es von Hüttenberg aus nur acht Kilometer und zehn Minuten mit dem Auto. Das Kräftemessen mit der in der Liga schon länger etablierten und sportlich meilenweit entfernten HSG gehört deshalb zu den Saisonhöhepunkten. Da passte es natürlich ins Bild, dass sich der TV Hüttenberg nach drei Niederlagen zum Saisonstart ausgerechnet beim 23:23 in Wetzlar den ersten Bundesliga-Punkt schnappte. Der TVH hatte dabei sogar die Chance auf mehr. „Es fühlt sich auf jeden Fall wie ein Sieg an. Unser erster Punkt der Saison, gerade wo wir zuvor zwei Spiele so knapp verloren haben. Den können wir verdientermaßen feiern“, bejubelte Torwart Fabian Schomburg den Teilerfolg, der den TVH auch punktemäßig wieder auf die Bundesliga-Landkarte brachte.

Und wer das Remis nicht in der Rittal-Arena miterleben konnte, durfte sich davor auf den Wetzlarer Straßen von der Wiederkehr der  Hüttenberger überzeugen. Trotz der kurzen Anreise absolvierte der Aufsteiger die Fahrt nicht etwa individuell, sondern im Mannschaftsbus. „Bevor die Jungs nicht wissen, wo die Rittal Arena ist, fahren wir lieber unseren Mannschaftsbus durch Wetzlar“, sagte Manager Lothar Weber mit einem Augenzwinkern und ergänzte zur Routenplanung: „Statt über die Autobahn sind wir über Rechtenbach und die Landstraße gefahren – und standen dann natürlich mitten im Stau in Wetzlar, sodass alle unseren schönen neuen Bus begutachten konnten.“ Verstecken will sich Hüttenberg also auf keinen Fall – selbst wenn es nur für eine Spielzeit ist.