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Magie im Arm, Schalk im Nacken: Löwen-Legende Gensheimer sagt „au revoir“
Die Rhein-Neckar Löwen verlieren am Saisonende einen Handball-Virtuosen, einen Anführer und Stimmungsmacher. Sie gewinnen einen Sportlichen Leiter mit Charisma, einmaligem Ruf und Netzwerk.
Wenn jemand wie Stefan Kretzschmar über ihn sagt, er sei der größte deutsche Linksaußen aller Zeiten, dann ist das ein Wort. Denn wenn jemand Uwe diesen Titel streitig machen kann, dann ist es Kretzsche. Nikola Karabatic, für viele der GOAT, der Größte aller Zeiten, adelt seinen ehemaligen Mannschaftskameraden mit denselben Worten – und bezeichnet es als Ehre, mit dem Mannheimer Seite an Seite auf dem Handballfeld gestanden zu haben.
Mit Uwe Gensheimer verlieren die Rhein-Neckar Löwen einen einmaligen Handball-Virtuosen, einen Anführer und Stimmungsmacher, einen Mann mit genauso viel Magie im Arm wie Schalk im Nacken. Sie gewinnen diesen Mann als Sportlichen Leiter. Ab Sommer wird er seine Expertise – und ganz sicher auch seine Anführer-Mentalität und gute Laune – in der Führung des sportlichen Bereichs einbringen.
„Ich freue mich sehr auf diese Aufgabe“, sagt der Mann, dessen Banner mit der Nummer drei seit dem Abend des 30. Mai (wieder) unter dem Dach der SAP Arena hängt. Allein die Zahlen darauf sind imposant: Von 2003 bis 2016 und dann noch einmal von 2019 bis 2024 trug Uwe Gensheimer das gelbe Trikot – und damit ein Stück Heimat in die Handball-Welt hinaus. „Du hast eine ganze Generation junger Menschen zu unserem Sport geführt, und das ist das Größte, das man über einen Sportler sagen kann“, adelt ihn dafür Positions- und Manager-Kollege Stefan Kretzschmar.
Für den genauso genialen wie bescheidenen Gensheimer sind solche Worte das Größte – und treffen ihn direkt ins Herz. Am Abend der Verabschiedung, aber auch schon viele Tage vorher, wird Uwe immer wieder überwältigt von seinen Gefühlen. Es fließen viele, viele Tränen. Tränen der Rührung. Tränen des Stolzes. Tränen der Erkenntnis: Jetzt ist es vorbei. So groß seine Karriere war, so groß ist jetzt der Trennungsschmerz des Uwe Gensheimer. Handballspielen, das war bisher sein Leben. Und was kommt danach?
Magie im Arm, Schalk im Nacken: Beim TV Friedrichsfeld fängt alles an
In seinen Aussagen über die Zukunft als Sportlicher Leiter schwingt immer auch die Ungewissheit mit: Was genau kommt da auf ihn zu? Wie wird es laufen? Die Verantwortung ist riesig. Der Druck wird – im Vergleich zu den aktiven Zeiten auf dem Feld – nicht kleiner. Nichts weniger als die sportliche Zukunft der Rhein-Neckar Löwen liegt nun in den Händen der lebenden Löwen-Legende, auch wenn er dabei nicht allein ist. Unterstützt wird er u.a. von Cheftrainer Sebastian Hinze, von Co-Trainer Michael Jacobsen, von Oliver Roggisch und Jennifer Kettemann. Und doch werden die Augen vor allem auf ihn gerichtet sein – auch das Fluch und Segen einer Welt-Karriere.
Diese Laufbahn, die auf dem Sportgelände des TV Friedrichsfeld begann, ist mehr als einen kurzen Blick wert. Dass die Weggefährten von damals in selbstgemachten „Danke Uwe“-Shirts zum Löwen-Abschied kamen, und das so zahlreich, dass sie fast einen halben Arena-Block füllten: Auch das sagt sehr viel über den guten Herrn Gensheimer. Immer wieder geht sein Blick in die Richtung des „Uwe-Blocks“: Niemals hat er seine Anfänge vergessen, war zuletzt beim TVF, um dort ein Beachhandballfeld einzuweihen. Wie viel er diesem Verein zu verdanken hat, weiß er genau. Dabei ist so viel seitdem passiert. So viel, dass sich nicht nur ein Buch damit füllen ließe.
Weil Uwe von Beginn an hart an sich arbeitet, Sonderschichten fährt, den Handball zu seinem ständigen Begleiter macht, wird man auf den Jungen mit dem großen Talent und dem noch größeren Ehrgeiz aufmerksam. Ein paar Kilometer weiter südlich erfährt Rolf Bechtold davon, dass da beim TV Friedrichsfeld einer rumturnt, der für die SG Kronau/Östringen interessant sein könnte. Die SG schickt sich gerade an, aus einem ambitionierten Zweitligisten zu einem Bundesliga-Verein zu werden. Dabei helfen soll ab Sommer 2003 der damals 17-jährige Uwe Gensheimer. Die SG ist gerade erstmals in die Erste Liga aufgestiegen. Um ein Haar klappt es mit dem Klassenerhalt. Am Ende fehlen im Relegationsduell mit Schwerin zwei Törchen. Für Uwe, der in sechs HBL-Spielen auf sieben Tore kommt, und die SG geht es zurück in Liga zwei.
Ein Schritt zurück, um zwei nach vorne zu machen: So kann man dieses Kapitel zusammenfassen. Denn Uwe wird in der Zweitliga-Saison 2004/05 mit 203 Treffern Torschützenkönig, die SG Kronau/Östringen feiert – erneut über die Relegation – den direkten Wiederaufstieg. Was folgt ist eine stetig sich steigernde Entwicklung, welche Kronau/Östringen und Uwe Gensheimer mehr oder weniger parallel vollführen. Nahezu auf Anhieb wird die SG, seit 2008 unter dem Namen Rhein-Neckar Löwen, zu einem Topteam der Handball-Bundesliga, und Uwe Gensheimer zu einem ihrer Aushängeschilder.
Viermal in Folge „Deutschlands Handballer des Jahres“
In der Saison 2008/09 werden die Löwen Dritter, erreichen zudem bereits zum dritten Mal in fünf Jahren das Finale um den DHB-Pokal. Uwe Gensheimer gehört mit 132 Toren zu den Leistungsträgern. Zwei Jahre später wird er zum ersten Mal zu „Deutschlands Handballer des Jahres“ gewählt – und wiederholt dieses Kunststück dreimal in Folge. Dabei gewinnt er in dieser Zeit mit den Löwen „lediglich“ den EHF-Cup 2013, durchlebt mit der deutschen Nationalmannschaft eine eher schwierige Phase. Woran also liegt es, dass Uwe in der Gunst des Publikums so weit oben steht?
„Uwe hat Trickwürfe gemacht, die es bis dahin einfach nicht gegeben hat“, fasst Positionskollege Stefan Kretzschmar die Faszination Uwe Gensheimer zusammen. Markus Götz, der seine Kommentatoren-Laufbahn zeitgleich zu Uwes Karriere begann, beschreibt es so: „Was Uwe mit seinem Handgelenk veranstaltet hat, welche Würfe er daraus hervorzaubern konnte, das war einmalig und ist meiner Meinung nach bis heute nicht zu erklären. Das trotzt allen Regeln der Physik.“ Es gibt ein Video, aus seiner späteren Zeit in Paris, da steht Uwe außerhalb des Feldes, mit einem Fuß im Spielertunnel auf dem Weg in die Katakomben. Er hebt den rechten Arm, verdreht diesen bis zur Unkenntlichkeit, und schickt den Ball auf eine Flugbahn, die wie maßgeschneidert im Tornetz endet.
Mit ähnlichen Videos, aufgenommen in der Trainingshalle der Löwen in Kronau, hat Uwe Gensheimer den YouTube-Kanal des Klubs in neue Dimensionen vordringen lassen. Seine Wurfvarianten-Videos sind bis heute die erfolgreichsten der Rhein-Neckar Löwen. Was dort zu sehen ist, ist die höchste Kunst des Handballs, ist mehr als das, ist pure Magie. Dabei hat ihm niemand diese Kunstfertigkeit in die Wiege gelegt. „Uwe war ein großes Talent – aber er war ein noch größerer Arbeiter“, sagt sein erster Trainer in Kronau, Rolf Bechtold. Wenn alle anderen nach Hause gingen, sei Uwe in der Halle geblieben, habe immer und immer wieder seine Würfe probiert, verfeinert, perfektioniert.
Das eine ist die handballerische Qualität. Das andere ist die Führungsrolle, die Uwe nach und nach bei den Löwen einnimmt. 2011 wird er zum wertvollsten Spieler der Handball-Bundesliga gewählt, 2012 Torschützenkönig. 2013 feiert er den ersten Titel mit den Löwen, den Sieg im EHF-Cup, erzielt im Halbfinale gegen Göppingen fünf, im Finale gegen Nantes zehn Tore. Mit ihm jubelt Andy Schmid, der in dieser Saison seinen Durchbruch auf der Spielmacher-Position feiert und heute noch genau weiß, wem er das mitunter zu verdanken hat: „Uwe hat mir damals sehr geholfen. Ich hatte keinen leichten Start bei den Löwen, habe mich lange schwergetan. Uwe war immer für mich da.“
Magie im Arm, Schalk im Nacken: 2016 ist das Schicksalsjahr
Der nächste Höhepunkt folgt 2016. Nach zwei vergeblichen Anläufen krönen sich die Rhein-Neckar Löwen zum Deutschen Meister. Uwe Gensheimer, Patrick Groetzki und Andy Schmid: Sie liegen sich vor Glück weinend in den Armen. „Das war, ist und bleibt mein emotionalster Titel“, sagt der Weltklasse-Linksaußen im Brustton der Überzeugung, und erklärt, warum: „Erst haben wir endlich diese verflixte Meisterschaft gewonnen, dann wurde mein Sohn geboren, dann kam mein Abschied Richtung Paris.“ Damals fließen in der SAP Arena kaum weniger Tränen als acht Jahre später – auch wenn es, wie die meisten ahnen, nur ein Abschied auf Zeit ist. In den drei Saisons bei Paris St. Germain beweist der Mannheimer, dass er es überall schaffen und selbst ein Star-Ensemble um eine weitere Facette bereichern kann.
Nicht nur die Karabatic-Brüder Nikola und Luka, sondern die komplette Pariser Handball-Fan-Gemeinde liegt dem „Lauser“ bald zu Füßen. Das liegt am Zauberhandgelenk, an unfassbar vielen und wichtigen Toren – vor allem aber an Uwes Charakter: „Dass du in wenigen Wochen Französisch gelernt und sehr bald dann auch ziemlich flüssig gesprochen hast, das hat dir die Herzen der Pariser gewonnen“, sagt Uwes Manager Uli Roth bei der Legenden-Verabschiedung in der SAP Arena. Wieder einmal beweist der Mann mit der Nummer drei, dass Talent das eine, Fleiß und harte Arbeit das andere, vielleicht sogar wichtigere ist. Französisch ist beileibe keine leicht zu lernende Sprache. Uwe meistert auch das. Genauso wie die letzte große sportliche Herausforderung.
Im April 2023, vier Jahre nach seiner Rückkehr zu den Löwen, stellt sich Uwe Gensheimer dem letzten verbliebenen „Makel“ seiner Sportler-Laufbahn. Nach neun vergeblichen Anläufen will er im zehnten Versuch endlich den DHB-Pokal gewinnen, den seine Mit-Löwen 2018 im insgesamt elften Anlauf – damals ohne ihn – in die Hände nehmen können. Das Finale gegen Magdeburg gerät zu einem Krimi, den die Handball-Welt in dieser Intensität selten erlebt hat. Uwe droht mit Fehlwürfen in der entscheidenden Phase zum tragischen Helden zu werden. David Späth rettet ihn und die Löwen ins Siebenmeterwerfen. Uwe tritt als erster an – und wuchtet den Ball derart überzeugt in die Maschen, dass dies die weiteren Löwen-Schützen beflügelt. Alle treffen, Gisli Kristjansson scheitert an Joel Birlehm – und die Rhein-Neckar Löwen sind zum zweiten Pokalsieger. Zum ersten Mal mit und dank Uwe Gensheimer.