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Auswärtsspiel
Rückblick-Ausblick: Mit dem badischen Bundesligisten unterwegs
Die Saison 2012/13 ist im Ziel. Damit liegt die erfolgreichste Spielzeit hinter den Rhein-Neckar Löwen. Und wir drehen den Scheinwerfer gerne noch einmal auf die verschiedenen Protagonisten und die einzelnen Eckdaten eines tollen Handball-Jahres für den badischen Bundesligisten und blicken auch schon mal Richtung neue Runde 2013/14. Das alles in loser Reihenfolge unter „Rückblick-Ausblick“.
Auswärtsspiel.
Zu Gast in einer fremden Halle, wo die gegnerischen Fans zum achten Mann des Rivalen werden. Jede Saison. 17 Mal in der Bundesliga, hinzu kommen Auftritte auf internationalem Parkett oder auch im DHB-Pokal. Auswärtsspiel. Das ist aber auch Logistik pur. Das sind stundenlange Busfahrten oder Flüge, das bedeutet in der Summe zig tausende Kilometer zu bewältigen. Das ist Teamarbeit rund ums Team. Auswärtsspiel. Ein Beispiel. Eine Chronologie. Oder: die Rhein-Neckar Löwen in Ostwestfalen.
Rainer Bauer setzt den Blinker. Es ist 3.36 Uhr am frühen, dunklen und kalten Morgen, als das gelbe Monstrum die Autobahn A 5 verlässt. Wenig später rollt der Bus am Trainingsgelände in Kronau vor und spuckt die Spieler der Rhein-Neckar Löwen aus. „Weeeltklaaassse!“ Der langgezogene Schrei von Abwehrchef Oliver Roggisch reißt auch den letzten schläfrigen Akteur aus der Erinnerung, ist in erster Linie aber Bestätigung für den Busfahrer, der die Strecke von Ostwestfalen ins Badische in einem Rutsch schaffte. Kein Stau oder sonstige Verzögerungen machten die 45-Minuten-Pause nötig, die normalerweise nach viereinhalb Stunden am Stück auf dem Fahrersitz fällig wird.
„Rainer, egal, was die Physios sagen, das war wieder einmal sensationell“, verteilt auch Trainer Gudmundur Gudmundsson augenzwinkernd ein Lob für die verlässliche Beförderung. Zeit ist schließlich kostbar. „Früher zu Hause. Das ist gut“, sagt Zarko Sesum, der sich auf seine kleine Tochter Lena freut. „Ihr ist es egal, ob wir gewinnen oder verlieren. Sie strahlt mich immer an“, berichtet der Serbe. Da kann Bjarte Myrhol nur beipflichten. Klein-Rasmus ist der ganze Stolz des Norwegers: „Ich genieße jeden Augenblick mit meiner kleinen Familie“, bestätigt der Kreisläufer während er mit den Kollegen die Sporttaschen aus dem Bus hievt.
Im Gepäck haben die Bundesliga-Handballer diesmal einen Big Point. In letzter Sekunde hatte Spielmacher Andy Schmid in der Lemgoer Lipperlandhalle zum 27:27-Unentschieden getroffen, nachdem die Löwen im zweiten Abschnitt zeitweise schon mit sechs Treffern in Rückstand gelegen hatten. Die nervenaufreibende Schlussphase lässt einem den Atem stocken, die Gedanken spülen Details nach oben: In Unterzahl kassieren die Löwen das 20:25 (54.). Die Fans in der Halle stehen, machen das TBV-Domizil zum Hexenkessel. Trotzdem. Aufgeben gibt’s nicht. Schmid, Sigurmannsson, Groetzki in Überzahl. Die Badener holen auf. Myrhol zum Anschluss. Das ist nichts für schwache Nerven. 25:24 (58.), Bechtloff mit seinem achten Treffer, aber Petersson antwortet prompt. Landin lenkt ein Geschoss an die Latte – und Sigurmannsson mit dem 26:26-Ausgleich. Die letzte Minute läuft, Lemgo in Ballbesitz. Noch 25 Sekunden. Auszeit Lemgo. Gedeon Guardiola gegen Gunnar Dietrich. Zu hart entscheiden die Schiedsrichter. Siebenmeter Lemgo. Bechtloff verwandelt. Die Uhr läuft runter. Aber die grüne Karte von Coach Gudmundsson liegt. Spielaufsicht Uwe Stemberg zeigt noch fünf Sekunden an. Und die nutzen die Löwen. Mit zwei Kreisläufern – und Spielmacher Schmid mit aller Macht und Verzweiflung aus dem Rückraum: Die Kugel rutscht unter Keeper Lichtlein zum 27:27 ins Netz. Aus, Schluss, vorbei. Die Löwen jubeln über einen sensationell erkämpften Punkt. Kampfgeist, Moral, Leidenschaft heißen die Attribute, die diese badische Einheit in der Spielzeit 2012/13 auszeichnen. Nicht nur in Lemgo.
Betreuer Konrad Hoffmann ist inzwischen längst in seinem Reich angekommen. In diesem Zimmer des Trainingszentrums stehen zwei Ungetüme: eine große Waschmaschine, die nun mit den verschwitzten Jerseys der Protagonisten gefüllt wird und ein riesiger Trockner. Noch gut eineinhalb Stunden hat Hoffmann nun Arbeit mit der Wäsche, dann fährt er heim nach Östringen. An ausreichend Schlaf ist allerdings nicht zu denken („so viel brauche ich auch nicht“), häufig stehen zu Hause andere Aufgaben an. „Und dann geht’s ja auch schon bald wieder zurück in die Halle“, sagt der 57-Jährige und blickt auf den Trainingsplan. Inzwischen haben die beiden Physiotherapeuten Sven Raab und Sascha Pander die mobilen Massagebänke wieder in den heimischen Gefilden untergebracht und verabschieden sich in den kalten Morgen: „Bis später, dann schaffen wir weiter.“
Dieser Winter will überhaupt kein Ende nehmen. So heißt die nächste gemeinsame Einheit: Eis kratzen, bevor die Löwen die Heimfahrt antreten. Noch etwas Schlaf nachholen, ehe Coach Gudmundsson am Nachmittag zur nächsten Zusammenkunft in der Trainingshalle bittet. „Wir haben ein sehr dichtgedrängtes Programm“, unterstreicht der Isländer, bei dem die Zahl 100 eine besondere Rolle spielt. Denn er sieht seine Aufgabe vor allem darin, seine Spieler zu 100 Prozent auf den nächsten Gegner vorzubereiten. Deshalb gehen unzählige Stunden fürs Videostudium drauf. Nachbereitung ist auch Vorbereitung. Die Tour zurück aus Ostwestfalen verbrachte er mit der Analyse der Partie beim TBV und klappte – in Kronau angekommen – zufrieden sein Laptop zu: „Wie die Mannschaft diesen Rückstand wettgemacht hat, das war schon phänomenal.“
Langsam leert sich der Parkplatz an der Kronauer Trainingshalle. Nachdem er vollständig ausgeräumt ist, startet auch Rainer Bauer den Bus. Vor ihm liegen noch gut 70 Kilometer zurück zum Betriebshof, wo der Starliner durch die Waschstraße muss, innen gereinigt und vollgetankt wird. Und damit bereit steht für den nächsten Einsatz.
Begonnen hatte die Fahrt zwei Tage zuvor, am frühen Nachmittag. Nach dem Abschlusstraining und einem gemeinsamen Mittagessen in der Vereinsgaststätte waren Taschen, Trikots und die Massagebänke im dicken Bauch des Mannschaftsbusses verschwunden. Hinzu gesellten sich Kisten mit Wasser, Apfelschorle und Isogetränken. Die Akteure nahmen ihre Plätze ein. 19.30 Uhr: Zielankunft. Erklärte das Navi. Normalerweise. Wenn sich der Winter nicht eindrucksvoll zurückgemeldet hätte. Im Schritttempo ging‘s zunächst auf den mit Eis und Schnee bedeckten Schnellstraßen voran. Verspätung programmiert. Gute Laune war dennoch Trumpf. Nicht zuletzt wegen der Verköstigung. Betreuer-Gattin Anita Hoffmann backt herrliche, süße Teile. Immer wieder. In den zurückliegenden drei Jahren verarbeitete sie etwa 1800 Eier in rund 300 Kuchen. Coach Gudmundsson hat den Marmorkuchen sofort erspäht („den mag ich am liebsten“). Auch die Kaffeemaschine hat längst Betriebstemperatur erreicht. Obendrein hat Betreuer Conny für Bananen (fünf bis sechs Kilo) und Äpfel gesorgt. Wird eine Auswärtsfahrt früher angetreten, werden für das Frühstück etwa 80 Rühreier, frische Brötchen und Brezeln sowie Wurst und Käse kredenzt. „Schließlich soll es den Spielern an nichts fehlen“, sagt Hoffmann – seit 2005 hauptamtlich für die Löwen tätig, über 30 Jahre kümmert sich das Östringer Urgestein insgesamt bereits um die kleinen und größeren Sorgen der Handballer.
Seit Anfang 2010 ist der Löwen-Bus vom Reisebüro Walter Müller (Mannheim/Biblis) mit und für die badischen Handballer im Einsatz, fast genauso lang fährt Rainer Bauer die Bundesligatruppe. Knapp 250 000 Kilometer hat der gelbe Koloss (13 Meter lang, 3,97 Meter hoch und 2,55 Meter breit, 506 PS) nun auf dem Tacho, davon etwa 80 000 mit den Handballern. Das einschneidendste Erlebnis mit dem „Neoplan Starliner C“? „Die Rückfahrt vom Champions-League-Spiel in Chambery“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Als Bauer das Gefährt aus einem Tunnel steuerte, wurde es von einer kräftigen Windböe erfasst. „Ich habe alles gebraucht, um den Bus auf der Straße zu halten. Gott sei Dank war an diesem frühen Morgen nichts los und die Strecke komplett frei“, unterstreicht Bauer, der seit über 30 Jahren als Busfahrer quer durch Europa unterwegs ist – und den folgerichtig so schnell nichts aus der Spur und aus der Ruhe bringt. Auch nicht an diesem Tag. Etwa 430 Kilometer sind bis zum Hotel in Bad Salzuflen zu absolvieren. Von der Autobahn A 7 fährt er ab. Raststätte am Hasselberg. „45 Minuten Pause, Männer!“, erklärt Rainer Bauer übers Mikro.
Raus aus dem Bus, Beine vertreten, Frischluft tanken, ehe die letzten Kilometer in Angriff genommen werden. Bad Salzuflen. Dort übernachten die Löwen bei den Gastspielen in Ostwestfalen. Minden, Lübbecke – oder eben Lemgo. Hotel Maritim. Alles aussteigen! In der Lobby ist demnach fast alles vertraut. Auch das Klavier, an dem beim letzten Aufenthalt der Schwede Kim Ekdahl du Rietz sein Können zum Besten gegeben hat. Heuer ist der Schwede allerdings nicht mit von der Partie. Das Verletzungspech hat bei den Badenern mit aller Macht zugeschlagen. So müssen die Löwen nicht nur auf der Platte auf den Rückraumspieler verzichten, auch die musikalische Untermalung des gemeinsamen Abends fällt diesmal aus.
Die Vorhut des badischen Bundesligisten steht bereits an der Rezeption: Teamkoordinator Christopher Monz verteilt die Zimmerschlüssel. „Es gibt nichts Ärgerliches als eine Mannschaft am Check-in und das Hotel hat noch keine Zimmer oder Speisen verfügbar“, erklärt er. „Abendessen in 20 Minuten“, lautet der nächste Programmpunkt.
Bereits vor der Saison werden die Unterkünfte für die Auswärtspartien festgelegt. Dies erfolgt nach speziellen Kriterien, beispielweise: Wie weit ist das Hotel von der Halle entfernt? Wie lange dauert die Anreise mit dem Bus? Sobald die Duelle von der Handball-Bundesliga (HBL) fest terminiert sind, beginnt Monz mit der Feinabstimmung. Sind die Hotels zum gewünschten Zeitraum verfügbar, gibt es genügend Zimmer? Besonderen Wert legt der Teamkoordinator dabei auf die jeweilige Küche. Frühstück, Mittag- und Abendessen sowie ein Imbiss vor dem Spiel werden benötigt, die Speise-Auswahl erfolgt stets vorab. Die letzte Mahlzeit bevor es auf der Platte Ernst wird, gibt es jeweils etwa drei Stunden vor dem Anwurf: Rührkuchen, belegte Brötchen, Kaffee und Softgetränke, bei Spielen am Abend stärken sich einige Profis zudem noch einmal mit Pasta.
Auch Coach Gudmundsson teilt seine Wünsche vorab dem Hotel mit. Für eine Videobesprechung wird ein Raum mit Beamer benötigt, auf einer Flipchart wird der Trainer entsprechende Taktiken und Spielzüge erklären. „Eine Auswärtsreise der Löwen besteht meistens aus einer Übernachtung“, gibt Monz Einblick in seine Planung.
Rechtsaußen Patrick Groetzki teilt sich das Zimmer mit Linksaußen Uwe Gensheimer. Die Flügelzange der Badener und der deutschen Nationalmannschaft ist eigentlich unzertrennlich. Allerdings kam es während der Verletzungspause von Linksaußen Gensheimer (Achillessehnenriss) zwischenzeitlich zu einem neuen Doppel: Groetzki/Myrhol.
„Johnny“ und „Gense“ – eine echte Handball-Freundschaft? „Ja, das ist Freundschaft. Auf jeden Fall“, bestätigt Groetzki. Seit fünfeinhalb Jahren teilen sich der Linkshänder und der Rechtshänder das Zimmer bei Auswärtsspielen. „Das bedeutet sehr viel Selbstverständlichkeit. Jeder weiß, was der andere macht. Allerdings ist Uwe immer wieder erstaunt, wenn ich jedes Lied, das im Radio läuft, textsicher mitsingen kann. Oder er ist mitunter ein wenig genervt, wenn ich zu viel Fußball schaue. Aber wir verstehen uns auch abseits des Handball-Parketts sehr gut. Wir können über alles sprechen, der eine kann sich auf den anderen verlassen“, betont Groetzki. Er ist 1,89 Meter groß, Gensheimer misst 1,88 Meter. Für die beiden Außen gibt es, was die Bettenlänge angeht, kaum Probleme. Das sieht bei den Rückraumspielern, den Kreisläufern oder den Torhütern mitunter anders aus. Oli Roggisch ist 2,02 Meter, Niklas Landin Jacobsen und Isaias Guardiola bringen es auf jeweils zwei Meter. „Da ist eine Schlafstätte in Übergröße eine gute Geschichte und einige Hotels bieten diese auch an“, so Monz.
Nach dem Abendessen (und am folgenden Vormittag) steht für einige Akteure die Behandlung im Physioraum an. Sven Raab und Sascha Pander kümmern sich um die Blessuren der Spieler.
Beim Frühstück sehen sich dann alle wieder. Spaziergang, Mittagessen, der Anwurf rückt näher. Besprechung, Video. Es wird Zeit. Auschecken, Abfahrt. 15 Minuten bis zur Lipperlandhalle. Dort trifft das Fernsehteam von Sport1 letzte Vorbereitungen. Ab in die Kabine. Umziehen. Tapen. Aufwärmen. Die Halle spüren. Jeder in seinem eigenen Tunnel.
Zwei Stunden später läuft der Abspann des Nervenkrimis. Die Löwen bedanken sich bei ihren mitgereisten Anhängern für die – wie immer – erstklassige Unterstützung. Einen Zähler nehmen die Badener mit. Weil sie nie aufgegeben haben – und weil sie spüren, dass die Fans sie nie aufgeben würden. „Danke! Wir brauchen euch. Ohne euch geht es nicht!“ Die Ansage von Bjarte Myrhol bringt es auf den Punkt. Der Kreisläufer und sein Team können sehr gut einschätzen, was die Löwen-Liebhaber auf sich nehmen. Bei jedem Spiel. Egal wo.
Nach den Interviews, der Pressekonferenz, vielen Smalltalks geht’s für die frisch geduschten Badener zurück zum Bus. Ein Lieferservice hat das bestellte Essen bereits gebracht. Die leeren Speicher auffüllen, heißt es nun. Aber noch nicht für alle. Patrick und Oli müssen zur Dopingprobe. Und das geschieht bekanntermaßen nicht auf Knopfdruck.
23.20 Uhr, weit über eine Stunde später als avisiert, treten die Löwen schließlich die Heimreise an. Der gelbe Riese setzt sich in Bewegung Richtung schwarze Nacht. Tschüss, Lipperlandhalle! Bis zum nächsten Mal. Dann in der Spielzeit 2013/14.