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Löwen empfangen Medvedi Tschechow

Kulinarisches Oktoberfest im Friedrichspark

Sie sind in Russland das Maß aller Dinge, die Handballer von Medwedi Tschechow. Der Klub entstand 2001, als er sich vom „Mutterverein“ ZSKA Moskau abspaltete und aus der Millionenmetropole verschwand. Er suchte ein neues Zuhause und fand es 80 Kilometer weiter südlich in der 60000-Einwohner-Stadt Tschechow, wo seitdem der russische Serienmeister spielt. Seit seiner Gründung gewann der Klub in jeder Saison die Meisterschaft!

Und doch sind die fetten Jahre in Tschechow vorbei. Nur noch wenig erinnert nach den Finanzsorgen im Jahr 2013 an die Vergangenheit, als praktisch die komplette russische Nationalmannschaft für Medwedi spielte. Der Klub gehörte einst zu den Schwergewichten in Europa, gewann 2006 sogar den Europapokal der Pokalsieger und gehörte stets zum erweiterten Favoritenkreis in der Champions League. 2010 gelang in der Königsklasse sogar die Qualifkation fürs Final Four in Köln, 2009 scheiterten die Russen im Viertelfnale übrigens an den Rhein-Neckar Löwen. Damals trugen noch Stars wie Konstantin Igropulo, Timur Dibirov oder Alexej Rastvortsev das Trikot von Medwedi. Genutzt hat ihnen das aber auch nichts gegen die Löwen. Die Badener verloren das Hinspiel in Tschechow zwar mit 31:33, bogen den Zwei-Tore-Rückstand aber im Rückspiel mit einem 36:28-Sieg um.

Trainer war damals Wladimir Maximow, der auch heute noch das Sagen auf der Bank hat. Der ehemalige Weltklasse-Handballer war viele Jahre Kapitän der sowjetischen Nationalmannschaft, mit der er 1976 in Montreal auch die olympische Goldmedaille gewann. Krönender Abschluss seiner imposanten Karriere, in der er mit MAI Moskau zwei Mal Europapokalsieger wurde, sollte die Weltmeisterschaf 1978 in Dänemark werden. 

Maximow spielte ein überragendes Turnier, führte seine Mannschaf ins Finale und war bereit für den nächsten Titel. Doch daraus wurde nichts, Heiner Brand und Co. hatten etwas dagegen. Deutschland triumphierte im Endspiel überraschend mit 20:19. Maximow beendete seine aktive Karriere und wurde ein ebenfalls mit Titeln überhäufer Trainer. Denn nicht nur mit Medwedi war er erfolgreich, sondern auch als Nationalcoach: Europameister 1996, Weltmeister 1993 und 1997, Olympiasieger 1992 und 2000.

Um ein Haar wäre es aber gar nicht zu dieser imposanten Trainerlaufahn gekommen. Bei einem Jagdunfall 1982 südlich von Moskau wurde Maximow angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Die Patrone saß unterhalb des Herzens, doch der willensstarke „Zar“, wie er genannt wird, schleppte sich zu einem Parkplatz und rettete so sein Leben. „Wenn der Körper auf dich hört“, sagte der Trainer einmal gegenüber den „Kieler Nachrichten“, „kann er in besonderen Situationen Dinge machen, die verwunderlich klingen.“ Keine Frage: Diesen Mann wirft so schnell nichts aus der Bahn, wie Ex-Löwe Sergey Shelmenko bestätigt. „Er kann leben ohne Essen und Trinken. Aber nicht ohne Handball“, sagt Medwedis Rückraumspieler und beschreibt damit trefend Maximows Begeisterung für den Sport.

Auch mit 69 Jahren ist die lebende Legende immer noch nicht müde. Und selbst die Fast-Pleite des Klubs 2013 nahm ihm nicht die Lust an seinem Job. Vor etwas mehr als zwölf Monaten drohte dem jahrelang massiv von der Politik unterstützen Verein das Aus. Die finanzielle Bürde der öffentlichen Hand sei nicht akzeptabel, hieß es im Sportministerium, die Last zur Finanzierung von Profiteams müsse von privaten Investoren getragen werden. Und so kam es zu gewaltigen Einschnitten: Stand 2012 noch die Summe von 2,5 Milliarden russischen Rubel (58 Mio. Euro) zur Verfügung, so wurde das Budget für den Spitzensport in der Region Moskau bis 2014 um 60 Prozent auf eine Milliarde Rubel reduziert. Oleg Zholobow, Sportminister der Region Moskau, machte deutlich, dass die Mittel für den Profsport gekürzt werden, um mehr in den Breitensport investieren zu können. 

„Ich verstehe, dass Spitzensport sehr wichtig ist, aber er kann nicht ohne den Kinder- und Breitensport existieren“, sagte Zholobow, der aber den totalen Kollaps von Medwedi dann doch nicht in Kauf nehmen wollte und sich an die Vorbildfunktion der Prof-Handballer erinnerte: „Gleichzeitig gilt, wenn ein Kind nicht den nationalen Meister sieht, die stärksten Leistungen der Vereine, dann wird es schwer, sie dort hinzubringen.“

Und so blieb der Klub zwar bestehen, aber die Stars waren nicht mehr zu fnanzieren. Michail Tschipurin, Daniel Schischkarew, Timur Dibirov und Alexej Rastwortsew schlossen sich im Sommer 2013 dem mazedonischen Meister Vardar Skopje an, Sergey Gorbok wechselte zu den Rhein-Neckar Löwen und zog in diesem Jahr ebenfalls nach Skopje weiter. Aus Kostengründen verzichtete Tschechow in der vergangenen Saison sogar auf die Teilnahme an der Champions League, in aller Ruhe trieb Maximow seinen Neuaufau mit Talenten voran. Vor dieser Saison stießen Maxim Kuretkov (SKIF Krasnodar) und Anton Otrezov (Dinamo Viktor Stavropol) neu zur Mannschaft. Ex-Löwe Shelmenko, der schon von 2009 bis 2013 bei Medwedi spielte, kehrte aus Minsk zurück. Wegen seiner Familie. Und wegen Maximow.

„Die Arbeit mit ihm hat mir immer Spaß gemacht.“ Der Trainer weiß indes, dass der Einzug ins Achtelfnale keine Selbstverständlichkeit ist, auch wenn er die K.o.-Runde zum Ziel gemacht hat. „Wir haben viele junge Spieler in unserem Team. Die Champions League ist eine einmalige Gelegenheit für unsere neue Generation, gegen die besten Handballspieler der Welt anzutreten“, meint der Coach, der sich besonders auf das Duell mit dem Dauerrivalen Montpellier und die Partien gegen seine zahlreichen Ex-Spieler bei Vardar Skopje freut. Kurios: Gegen die Franzosen tritt Tschechow schon zum siebten Mal in den vergangenen 13 Jahren an. „Es ist unser Schicksal, wieder einmal gegen Montpellier zu spielen. Und gegen Vardar werden zu zwei Dritteln russische Spieler auf dem Feld stehen. Nach zuletzt zwei Niederlagen in der Königsklasse in Veszprém sowie in Skopje wollen die Löwen am Sonntag wieder in die Erfolgsspur zurückkehren.

„Natürlich nehmen wir die Favoritenrolle an und wollen gemeinsam mit unseren Fans den zweiten Heimsieg feiern“, bekennt Trainer Nikolaj Jacobsen. Der Däne warnt allerdings auch davor die noch punktlosen Russen zu unterschätzen. „Jede Mannschaft in unserer Gruppe kann Handball spielen. Auch Medvedi wird kein Selbstläufer für uns werden, aber gemeinsam mit der Unterstützung unserer Zuschauer glaube ich fest an einen weiteren Erfolg“, so der Coach, der auch am Sonntag mit Patrick Groetzki planen kann. Der Nationalspieler war beim Auswärtserfolg am vergangenen Mittwoch in Balingen zwar fünf Minuten vor dem Ende böse umgeknickt, gab aber schon selbst am nächsten Tag Entwarnung. „Kein Problem, ich werde gegen Moskau dabei sein und freue mich drauf nach zuletzt zwei Auswärtsspielen in der Champions League und der Bundesliga wieder vor unseren Fans zu spielen.“

Für die eigenen Anhänger haben sich die Löwen gegen Moskau zudem ein Highlight einfallen lassen. Als „Oktoberfest“ gibt es in der Fankneipe Friedrichspark in der SAP Arena bayrische Spezialitäten: Über Weißwürste, Krustenbraten bis zu Obatzter kommen die Zuschauer auch kulinarisch auf ihr Kosten. Der Zugang zum Friedrichspark ist ausschließlich über den Stehblockbereich möglich, das Heimspiel gegen Moskau wird, wie schon die Partie gegen Montpellier, als Unterrangspiel ausgetragen.