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Auf die Löwen wartet schon der nächste Brocken (RNZ)

Hamburg/Kiel. Große Siege haben ihren Ursprung meist an einem ganz anderen, zuweilen unscheinbaren Ort. Dazu zählt auch der 32:30-Erfolg der Rhein-Neckar Löwen beim THW Kiel im Achtelfinale des DHB-Pokals. Dass die Badener den Cupverteidiger und Dominator des deutschen Handballs der jüngeren Vergangenheit in dessen Wohnzimmer besiegten und jetzt die große Chance haben, selbst Pokalsieger zu werden, hat auch mit einer langen und öden Reise in die Ukraine zu tun. Während des Auswärtsfahrt in der Champions League nach Saporoschje wurde Ende November der Geist geboren, mit dem sich die Badener zu einer Glanzleistung aufschwangen.

Die Bilderbuchleistung in Kiel kam nicht aus dem Nichts, denn schon in den Ligaspielen bei den immer stärker werdenden Melsungern (30:27) und beim Schützenfest gegen kriselnde Gummersbacher (36:22) deutete sich an, dass die Mannschaft von Gudmundur Gudmundsson eine sich andeutende Leistungskrise überwunden hat. „Auf so einer Reise hat man viel Zeit“, blickte Andy Schmid auf den Trip nach Saporoschje zurück, als die Spieler in vielen beiläufig erscheinenden Gesprächen – im Bus, am Frühstückstisch oder in der Hotellobby – zu dem Schluss kamen, dass es im Jahresendspurt mehr braucht, als die Mannschaft in den Partien zuvor auf die Platte gebracht hatte.

„Die Stimmung war durch die vielen Spiele und die vielen Reisen etwas abgeflacht, deshalb war Saporoschje ein Schlüsselereignis“, erzählt Schmid im Rückblick. Und weil sich die Löwen ohne Einfluss oder Anstoß von außen dessen selbst bewusst wurden und seither mit anderer Körpersprache ihre Arbeit verrichten, geht die Leistungskurve wieder bergauf.

Nicht allein die Tatsache, dass die Löwen in Kiel gewonnen haben, beeindruckte, sondern vielmehr überzeugte das „Wie“, mit dem das Gudmundsson-Team in der Kieler Arena auftrat. „Ich bin sehr stolz auf die Spieler“, lobte der Trainer, und Spielmacher Schmid gab das gerne an den Coach zurück: „Jeder wusste, was er machen musste. Wir waren auf beide Deckungssysteme gut vorbereitet.“

Oft gewinnen die Löwen ihre Spiele mit der aggressiven und höchst variablen 6:0-Deckung, mit der die Gegner zur Verzweiflung getrieben werden, doch beim vermutlich schwersten Gegner überhaupt war der Angriff entscheidend für den Sieg. Und mittendrin war Mittelmann Schmid, der aus dem Spiel heraus „nur“ zwei Tore erzielte, dafür aber als Taktgeber überragte. „Schmid hat das sehr gut gemacht, wir haben kein Mittel gefunden“, musste THW-Startrainer Alfred Gislason nach dem Spiel einräumen. Viel Zeit für eine Siegesfeier haben die Löwen nun allerdings nicht, denn noch ehe der Gegner für das DHB-Pokal-Viertelfinale am Dienstag ausgelost wird, stellt sich ihnen morgen (15 Uhr, live bei Sport1) mit dem HSV Hamburg in der Liga schon der nächste Brocken in den Weg. „Hoffentlich bekommen wir ein Heimspiel, das hätten wir jetzt verdient“, sagte Schmid noch kurz zum Pokal, dann richtete er die Aufmerksamkeit auf die Hamburger.

Weil Mannschaft und Trainerstab zwischen den beiden Topspielen ihr Quartier in der Hansestadt aufgeschlagen haben, bleibt ihnen Reisestress erspart. Gestern standen zunächst ein Videostudium und anschließend eine Trainingseinheit in der früheren Alsterdorfsporthalle auf dem Plan. Noch ehe das Tagespensum absolviert war, wagte Schmid schon eine Prognose. „Ich glaube, dass uns Hamburg besser liegt als Kiel“, sagte der Schweizer und erinnert sich gerne an den grandiosen 30:23-Auswärtssieg in der Vorsaison.

Zu viele Gedanken möchte er aber daran nicht verschwenden, denn die Gegenwart zählt – das ist eine zentrale Erkenntnis aus Saporoschje. Deshalb sagt Schmid: „Wir brauchen alle eine Extraleistung, wenn wir den HSV schlagen wollen.“ 

Von Michael Wilkening