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Berauscht am eigenen Spiel (MM)

Die Löwen führen gegen den FC Barcelona phasenweise mit elf Toren und besiegen den Champions-League-Titelfavoriten sensationell mit 38:31

MANNHEIM. Sie brauchten genau neun Minuten, da waren die Rhein-Neckar Löwen schon wieder in ihrer eigenen Welt, in ihrem ganz persönlichen Tunnel. 7:2 führen die furchtlosen Badener im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League gegen den Titelfavoriten FC Barcelona – und längst berauschte sich der Handball-Bundesligist erneut an seinem eigenen Spiel. „Wahnsinn. Das ist einfach Wahnsinn. Ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen soll“, fiel Manager Thorsten Storm nach dem Abpfiff auch nicht mehr viel ein, als der 38:31-Sieg des EHF-Cup-Gewinners feststand: „Wir haben mit Adrenalin ohne Ende gespielt.“

Besser, schöner, schneller

13 200 Zuschauer sahen eine Sternstunde, einen magischen Handball-Abend, der die Gala vom Mittwoch im Bundesliga-Gipfel gegen den THW Kiel noch einmal übertrumpfte. Das galt bis zum Anpfiff der Begegnung am Ostersonntag als unmöglich, doch die Gelbhemden erbrachten gegen die Katalanen tatsächlich den Beweis, dass sie es noch besser, schöner und schneller können. Torwart Niklas Landin machte einfach da weiter, wo er gegen Kiel aufgehört hatte. Seine spektakulären Paraden und 33 Prozent Fangquote waren Weltklasse – die Angriffsleistung der Löwen in der ersten Halbzeit mit einer Trefferquote von 88 Prozent ebenfalls. Mit Tempo und Wucht überrollte der Bundesliga-Tabellenführer das hoch dekorierte Starensemble aus Katalonien, konsequent nutze er seine Chancen. Zum Beispiel Patrick Groetzki: Der Rechtsaußen bekam 27 Minuten lang keinen einzigen Ball, um dann in der Schlussphase der ersten Halbzeit ganz cool drei Treffer zu erzielen. So etwas nennt man Kaltschnäuzigkeit.

Am Kreis zerschnitt Bjarte Myrhol mit seinen Sperren die Abwehr des Gegners oder traf einfach selbst – und dann gab es da noch einen Mann, der vom linken Flügel aus regelmäßig Richtung Tor absprang und dabei Barcelonas Keeper Danijel Saric auch noch hätte sagen können: Gestatten, Gensheimer mein Name! Der Winkel spitz, der Platz gering. Dem Kapitän der Löwen war’s egal. Zehn Würfe, zehn Tore. Akrobatik und Artistik, Athletik und Ästhetik. Mal kunstvoll, mal kraftvoll. Der waschechte Mannheimer hatte bis zum 22:14-Pausenstand alles im Angebot, netzte auch nach dem Seitenwechsel noch viermal ein und tat nach dem Abpfiff genau das, was er immer macht. Der Rechtshänder schrieb fleißig Autogramme, posierte geduldig für Fotos. Hier ein paar nette Worte, dort ein paar nette Worte. Und immer wieder lächeln – obwohl auch ihm die Strapazen ins Gesicht geschrieben standen.

Zum dritten Mal innerhab einer Woche war der EHF-Cup-Gewinner an seine Grenzen gegangen. „Ich bin sehr stolz auf die Mannschaft. Wir waren gegen einen Weltklasse-Gegner das bessere Team“, sagte der überragende Mann, dem dann doch nicht alles gelingen wollte: In der Schlussminute setzte der Linksaußen einen Siebenmeter an die Unterkante der Latte. „Ich bin ein Perfektionist und ärgere mich über so etwas. Aber es war knapp“, meinte der Kapitän mit einem schelmischen Grinsen.

Gewiss, ein Tor Vorsprung mehr wäre schön gewesen, zumal Barcelona in der Schlussphase nach zwischenzeitlichem Elf-Tore-Rückstand (30:19/39.) immer näher kam. „Wir waren stehend k.o. – hatten zuvor aber einen riesigen Aufwand betrieben. Es ist ein bisschen schade, dass der Vorsprung ein wenig geschmolzen ist. Aber bei Barcelona stehen auch ein paar Leute im Team, die Handball spielen können und sich nicht verrückt machen lassen“, überwog bei Gensheimer nach dieser unfassbaren Energieleistung natürlich die Freude: „Wir haben das durchziehen können, was uns auszeichnet. Wir standen gut in der Abwehr und haben den Gegner dann überrannt. Barcelona wusste phasenweise nicht, wo der Ball ist.“

Die Tür zum Final Four steht vor dem Rückspiel am Samstag plötzlich ganz weit offen – dabei ist es doch das erklärte Ziel der Katalanen, die Champions League in diesem Jahr zu gewinnen. Anerkennend klopften die Offiziellen des ruhmreichen Traditionsvereins aus der Mittelmeer-Metropole Löwen-Manager Storm auf die Schulter. Sie gratulierten nur wenige Minuten nach Spielende wahlweise zu einer „unglaublichen“ oder „unvorstellbaren“ Leistung. Keine Frage: So sehr war das in der nationalen Liga gerade ohne Verlustpunkt Meister gewordene Starensemble aus Katalonien seit Monaten nicht mehr vorgeführt worden. „Die waren ja geschockt, dass sie einen Gegner hatten“, meinte Storm mit Blick auf die Dominanz des Rivalen in Spanien.

Fest steht: Die Löwen reisen mit einer richtig guten Ausgangsposition zum zweiten Duell, von einer Vorentscheidung mochte bei den Badenern nach dem sensationellen Hinspiel-Ergebnis trotzdem niemand sprechen. Und das aus gutem Grund. Im legendären Palau Blaugrana haben die Katalanen schon so manch verloren geglaubte Schlacht gedreht. Und dass sie die Qualität für die Wende haben, steht sowieso außer Frage. Deshalb äußerte sich auch Gensheimer zurückhaltend und erinnerte daran, wie schnell es im Handball gehen kann: „Sieben Tore Vorsprung sind gut. Im Viertelfinale gegen Kielce lagen wir aber zwischenzeitlich mit acht Treffern zurück. Dennoch waren es am Ende wir, die weitergekommen sind.“

Von Marc Stevermüer