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„Botschaft an die Völker gesendet“ (MM)

Mannheim. Ihm blutet das Herz. In jeder Minute, in jeder Sekunde. Nur allzu gern würde Zarko Sesum auch auf dem Feld stehen, seinen Jungs helfen, in der Abwehr zupacken und das Angriffsspiel ankurbeln. Doch der Rückraumspieler der Rhein-Neckar Löwen ist zum Zuschauen verdammt und seine Rolle eine andere. Der Rechtshänder gibt den Motivator, den Einpeitscher am Spielfeldrand – der Handballer lebt und leidet mit den Löwen. So auch am Samstag, als der badische Bundesligist in der Mannheimer MWS Halle mit einem 39:36-Sieg über IF Eskilstuna Guif den Einzug ins Viertelfinale des EHF-Pokals perfekt machte.

Der Serbe leidet nach wie vor an den Folgen einer Augenverletzung und spricht von „gemischten Gefühlen“ bei Fragen nach seinem Befinden: „Einerseits bin ich ein wenig erleichtert, dass diese Geschichte nicht ganz so gravierend wie zunächst befürchtet ist. Andererseits geht es mir nicht so gut, weil ich nicht spielen und eben auch nicht so gut sehen kann.“

„Ich dachte an Karol Bielecki“

Bei der Handball-EM in Serbien vor wenigen Wochen wurde der 1,95-Meter-Mann bei der brisanten Halbfinalpartie zwischen seinem Heimatland und Kroatien schwer verletzt. Vor 20 000 Zuschauern ging es vor allem auf den Rängen hoch her. Bengalische Feuer, emotionale Gesänge, gellende Pfiffe: Die Arena in Belgrad glich einem Hexenkessel, einem Pulverfass. Die Stimmung unter den heißblütigen Fans war nicht nur aufgeheizt, sondern ausgesprochen feindselig. Als Sesum in der Halbzeitpause in die Kabine marschierte, wurde er am rechten Auge von einer Münze getroffen. Ein serbischer Zuschauer hatte in Richtung des kroatischen Trainers Slavko Goluza ein Geldstück geworfen, traf aber nicht den Coach, sondern Sesum am rechten Auge.

„Ich konnte sofort nichts mehr sehen, hatte große Schmerzen und stand unter Schock“, erinnert sich der Löwe: „Ich wurde ins Krankenhaus gebracht und habe von unserem Sieg nichts mehr mitbekommen. Ich hatte große Angst, dass mir das gleiche Schicksal wie Karol Bielecki droht.“ Der Pole spielt ebenfalls bei den Löwen und erblindete im vergangenen Jahr auf dem linken Auge. Der Rechtshänder hatte sich die Verletzung in einem Länderspiel – übrigens auch gegen Kroatien – zugezogen, als der Finger von Josip Valcic bei einer Abwehraktion sein linkes Auge traf.

Sesum hatte dagegen Glück im Unglück. Zwar ist seine Sehfähigkeit auf dem rechten Auge nach wie vor stark beeinträchtigt, doch eine Operation in dieser Woche soll ihm helfen. „Die Ärzte sprechen von einem Routineeingriff, eine Linse wird getauscht“, berichtet der sympathische 25-Jährige.

Alle Löwen haben den Schock mittlerweile verdaut, auch Thorsten Storm, der auf der Tribüne das Drama hautnah miterlebte. Der Löwen-Geschäftsführer scherzt schon wieder: „Zarko wird nach dem Eingriff vielleicht weniger Sehfähigkeit als vorher haben. Aber damit kann er dann wahrscheinlich immer noch besser gucken als ich. Die ganze Geschichte hätte für ihn noch deutlich schlimmer ausgehen können.“

Vergessen wird der Rückraumspieler die bitteren Stunden zwischen Hoffen und Bangen allerdings niemals. Vor allem, weil ihm ein Lebenstraum genommen wurde. „Wir standen im EM-Endspiel im eigenen Land. Diese Chance bietet sich einem Handballer wahrscheinlich nur ein einziges Mal in seiner Karriere. Und ich durfte wegen so einer Dummheit, für die ich noch nicht einmal etwas konnte, im Finale nur von der Tribüne aus zuschauen. Das war der absolute Horror“, ärgert sich Sesum.

Nachwirkungen des Krieges

Sein Frust ist ihm immer noch anzusehen, die Enttäuschung spürbar. Immer wieder schwirren seine Gedanken um das Halbfinale gegen Kroatien: „Die Rivalität zwischen beiden Ländern ist unbestritten. Die Stimmung in der Halle war richtig heiß, wahrscheinlich sogar einen Tick zu aggressiv. Was da teilweise auf den Rängen geschehen ist, hatte überhaupt nichts mit Sport zu tun. Das waren keine Handball-Fans. Gott sei Dank ist nicht noch mehr passiert.“

Über 5000 Polizisten sicherten die Partie, nachdem es in den Tagen zuvor schon immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Serben und Kroaten gegeben hatte. Die Wunden nach dem Krieg auf dem Balkan, den Sesum in den 90er Jahren als kleiner Junge miterlebte, sind bei vielen Menschen noch lange nicht verheilt. Mord, Vergewaltigung, Vertreibung und Folter – die Liste der Grausamkeiten ist ellenlang und belastet das Verhältnis zwischen beiden Ländern bis heute. „Umso besser war es, dass wir Spieler uns vorbildlich verhalten haben und als gutes Beispiel für ein faires Miteinander vorangegangen sind. Beide Mannschaften haben jeweils eine Botschaft an ihr Volk geschickt. Ich hoffe, dass dies in Erinnerung bleibt und nicht der Münzwurf“, setzt Sesum auf Versöhnung und Vergebung. Manchmal ist Handball eben doch mehr als nur ein Spiel.

Von Marc Stevermüer

 20.02.2012