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Die große Sehnsucht (MM)

Oft war der badische Handball-Bundesligist nah dran an einem Pokal – diesmal soll es endlich klappen

NANTES. Im Oktober verschwendete Stefan Rafn Sigurmannsson nicht einen einzigen Gedanken an den Gewinn des EHF-Pokals. Warum auch? Dafür gab es keinen Grund, schließlich war der 22-Jährige gerade erst mit Haukar Hafnarfjördur aus diesem Wettbewerb ausgeschieden. Die Hürde HC Motor Zaporozhye, sie war für den isländischen Klub einfach eine Nummer zu groß.

Sigurmannsson? Zaporozhye? Genau, da war doch was! Seit Oktober hat sich viel verändert – und das hat mit den Rhein-Neckar Löwen zu tun. Mittlerweile trägt der Linksaußen nämlich das Trikot des Handball-Bundesligisten, der in der Gruppenphase des EHF-Pokals mit Sigurmannsson zwei Mal gegen die Ukrainer aus Zaporozhye gewann und am Wochenende beim Final Four in Nantes die Möglichkeit hat, den Titel zu gewinnen. „Für mich ist das wie eine zweite Chance. Jetzt hoffe ich, dass wir diese nutzen“, sagt Sigurmannsson und grinst.

Die Sehnsucht nach dem Pokal ist groß. Bei ihm – und bei allen anderen Löwen sowieso. Zu oft waren sie nah dran an einer Trophäe, um dann doch so kurz vor dem Ziel zu scheitern. „Ich habe das zwar schon ein paar Mal gesagt, aber diesmal bin ich mir ganz sicher. Wir sind jetzt einfach dran“, blickt Abwehrchef Oliver Roggisch dem Finalturnier optimistisch entgegen. Er stand 2008 mit den Gelbhemden im Finale des Europapokals der Pokalsieger und 2010 im DHB-Pokalendspiel – beide Duelle gingen zum Teil dramatisch verloren. Jubel und Jammer, Freude und Frust. Diese Gefühlswelten liegen eben dicht beieinander, wenn es um etwas Großes geht. Hier die Sieger, die umjubelten Helden, die ihr Glück kaum fassen können und den Pokal in die Höhe recken. Und dort die Unterlegenen, die enttäuschten Verlierer, denen nur die Rolle der Gratulanten bleibt.

Roggisch hat beides schon erlebt, die Karriere von Uwe Gensheimer ist hingegen mit Tragik und Tränen gepflastert. Der Linksaußen verlor nicht nur 2008 und 2010 ein Finale, sondern auch 2006 und 2007 das DHB-Pokalendspiel. Oft genug durfte er eine Trophäe nur ehrfurchtsvoll in den Händen der jubelnden Gegner bewundern. Ganz nach dem Motto: nur gucken, nicht anfassen. Doch damit soll jetzt endlich Schluss sein. Von der Rolle des weinenden Verlierers haben die Löwen genug, ihr Streben nach Glück soll endlich von Erfolg gekrönt sein.

Der gebürtige Mannheimer Gensheimer glaubt nach überstandener Verletzungspause fest an seinen großen Traum, endlich mit „seinem“ Verein einen Titel gewinnen zu können. „Wir haben die Chance auf eine Revanche“, erinnert sich der Kapitän an das EHF-Cup-Halbfinale gegen Frisch Auf Göppingen im vergangenen Jahr. Damals scheiterten die Löwen an den Schwaben (33:32, 29:33), jetzt kommt es am Samstag (18 Uhr) zu einer Neuauflage. „Ich hoffe, dass sich alle aus unserer Mannschaft an die Emotionen nach diesem Ausscheiden 2012 erinnern“, will Gensheimer ähnlich bittere Momente nicht erneut erleben.

Vor rund zwölf Monaten wurde die Vorschlussrunde noch in Hin- und Rückspiel ausgetragen, jetzt gibt es ein Duell auf neutralem Boden. „Ich bin froh, dass ich nicht nach Göppingen muss“, scherzt Regisseur Andy Schmid mit Blick auf die stets aufgeheizte Stimmung in der EWS-Arena. Seine Miene wird jedoch ganz ernst, wenn er über das kommende Wochenende spricht. Der Schweizer drückt Entschlossenheit und Siegeswillen aus. Er ist bereit für das Derby, bereit für den Titel. „Wir fahren nicht nach Nantes, um im Halbfinale auszuscheiden, sondern wollen den Pokal gewinnen. Das wäre eine Riesensache für unsere Mannschaft und den Klub.“

Zu viel haben die Badener in diesen Wettbewerb investiert, um jetzt so kurz vor dem Ziel zu scheitern. Den Titelanwärter KIF Kolding-Kopenhagen ließen sie in der Gruppenphase hinter sich, den Mitfavoriten SC Magdeburg warfen die Badener im Viertelfinale aus dem Wettbewerb. Nun wollen sie den nächsten schweren Brocken aus dem Weg räumen. Das geht allerdings nicht ohne Lockerheit, wie Schmid betont: „Nur weil wir ein Sieganwärter sind, muss es nicht zwangsläufig mit dem Titel klappen. Wir werden uns nicht auf diesen Pokal versteifen.“

Mentale Stärke, die richtige Mischung zwischen An- und Entspannung – an diesem Punkt kommt Trainer Gudmundur Gudmundsson ins Spiel. Der Isländer weiß um die große Titelchance in Frankreich, dämpft aber traditionell die Erwartungen. Göppingen sei kein leichter Gegner, warnt der Coach, und verweist auf das Remis in der Liga Ende 2012. Und natürlich hat auch er, der Mahner und Warner vom Dienst, das Halbfinale in der vergangenen Saison nicht vergessen. Ein vorsichtiges „wir können gewinnen“ kommt ihm dann zwar doch über die Lippen, ein entscheidender Nachsatz folgt allerdings gleich hinterher: „Es muss aber alles passen.“

Die Rechnung ist auf jeden Fall einfach. Zwei Tage, zwei Spiele, zwei Siege – und schon bekäme Sigurmannsson das perfekte Präsent. Der Isländer wird am Sonntag 23 Jahre alt. Der EHF-Cup-Titel als Geschenk?! Daran verschwendete er im Oktober garantiert keinen Gedanken.

Von Marc Stevermüer