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Die Verrückten von der Vulkaninsel

Mannheim. Sie gestikulieren und dirigieren. Wenn Gudmundur Gudmundsson und Alfred Gislason am Spielfeldrand stehen, sind die Trainer eingetaucht in ihre eigene Welt. Die Isländer sind vollgestopft mit Emotionen und Adrenalin. Leidenschaftlich treiben sie ihre Mannschaften an, hin und wieder brodeln sie wie ein Vulkan. Gudmundsson und Gislason stehen unter Strom, verlieren aber nicht den Überblick. Die Übungsleiter sind als Strategen gefragt, beobachten das eigene Team und studieren den Gegner. Nichts entgeht ihren wachsamen Augen. Und dann schießt ihnen eine Idee in den Kopf. Die Geistesblitze kommen so plötzlich wie die Fontäne eines Geysirs.

Akribische Analytiker

Akribisch gehen die Trainer ihrer Arbeit nach. Sie lieben ihren Sport nicht nur, sie leben ihn. Handball beherrscht das Denken der Taktikfüchse, die sich seit vielen Jahren aus ihrer isländischen Heimat kennen. Das Duo spielte zusammen im Nationalteam, teilte sich dort sogar ein Zimmer. „Alfred ist ein zuverlässiger Freund mit einem tollen Humor. Wir haben schon viel zusammen gelacht“, berichtet Gudmundsson, der Trainer der Rhein-Neckar Löwen, nur Gutes über seinen Kollegen, der beim Titelverteidiger THW Kiel das Sagen hat. Am Mittwoch (20.45 Uhr/SAP Arena) stehen sich die Freunde wieder gegenüber, wenn es in der Bundesliga um Punkte geht. Dann ruht für 60 Minuten die Freundschaft.

Im Kampf um den Titel haben die Badener nur noch Außenseiterchancen, Gislason ist aber davon überzeugt, dass im Südwesten mittelfristig ein ernsthafter Rivale für den Serienmeister heranwächst. „Gudmundur ist ein absoluter Fachmann. Wenn er mit seiner Mannschaft erst einmal eine komplette Saisonvorbereitung durchgezogen hat, werden die Löwen noch stärker sein“, sagt der Kieler Erfolgscoach. Er schränkt jedoch ein: „Großartig überraschen kann mich Gudmundur nicht mehr. Dafür haben wir schon zu viel zusammen im Handball erlebt.“

Die beiden Isländer schätzen sich, haben Respekt voreinander – allein schon wegen ihrer großen Erfolge. Als Trainer gewann Gislason mehrmals die Champions League und die Deutsche Meisterschaft, Gudmundsson genießt in seiner Heimat einen Heldenstatus, weil er das Nationalteam 2008 zur Olympischen Silbermedaille führte. „Ich habe mich riesig für ihn und unser Land gefreut, trotzdem würde ich das nicht gegen einen Champions-League-Titel eintauschen. Ich liebe meine Arbeit beim THW“, sagt Gislason, der sich einen freundschaftlichen Seitenhieb nicht verkneifen kann. „Ich habe an dieser Medaille auch meinen Anteil“, meint der Kieler und grinst schelmisch. Er war vor Gudmundsson Nationaltrainer und erreichte mit Island das olympische Qualifikationsturnier. „Den Rest habe ich dann aber erledigt“, stellt der Löwen-Coach mit einem Lachen klar.

Die Silbermedaille verwandelte den kleinen Staat in eine große Partymeile, Handball hat auf der Insel einen riesigen Stellenwert. Immer wieder bringen die Isländer Ausnahmekönner wie Löwe Ólafur Stefánsson hervor. „Einen Besseren gab und gibt es bei uns nicht. Ich habe kein Verständnis dafür, dass Ólafur noch nie zum Welt-Handballer gewählt wurde“, sagt Gislason, der im niedlichen Hafenstädtchen Akureyri aufwuchs.

Fjorde und Berge kennzeichnen eine sagenhafte Natur, sein Geburtsort sei die schönste Stadt auf der ganzen Insel, schwärmt der Kieler Trainer – und erntet Widerspruch von Gudmundsson. „Ja, es ist nett dort. Aber ich finde nicht, dass Akureyri schöner als Reykjavík ist“, verteidigt der Löwen-Coach seine Heimatstadt. Nachgeben will keiner, was in diesem Fall weniger für Sturheit, sondern vielmehr für eine ausgeprägte Siegermentalität spricht.

Einig sind sich die Handball-Verrückten immerhin bei ihrem Hobby. Wenn es im isländischen Sommer nicht dunkel wird und die Trainer dem Stress entflohen sind, finden beide ihre innere Ruhe beim Angeln. Dann wird die Rute ausgeworfen und gewartet. Kein Gestikulieren. Kein Dirigieren. Einfach nur Stille – und dennoch bleibt ein Gedanke immer im Kopf: Handball.

Von Marc Stevermüer

 30.11.2010