Veröffentlichung:

Ein guter Riecher trotz krummer Nase (MM)

Mannheim. Das Lob heimsen die anderen ein: Uwe Gensheimer zum Beispiel, wenn er Spektakuläres zeigt. Oder Bjarte Myrhol, wenn er zweistellig trifft. Die Protagonisten in der Abwehr stehen dagegen im Hintergrund. Wenn überhaupt, dann werden die Torhüter herausgehoben, ihre Paraden gezählt, ihre Reflexe gelobt.

Dass es oft die Deckung ist, die einen Schlussmann erst gut aussehen lässt, gerät da schnell in Vergessenheit. Oliver Roggisch kann ein Lied davon singen. Er ist der Abwehrchef der Rhein-Neckar Löwen und wird in der Offensive kaum eingesetzt, weshalb er nicht mit Tricks und Toren glänzen kann. „Damit habe ich mich lange abgefunden, ich spiele seit 14 Jahren in der Bundesliga. Ich gönne jedem sein Tor und feiere mit den Jungs. Das reicht mir. Wichtig ist der Mannschaftserfolg. Die Trainer wissen dafür, wie wichtig Abwehrarbeit ist“, sagt der 33-Jährige.

Auf Gehalt verzichtet

Löwen-Coach Gudmundur Gudmundsson und auch Manager Thorsten Storm schätzen die Leistungen des Kraftpakets. Und deshalb bekam der Weltmeister von 2007 einen neuen Vertrag bis Juni 2013 bei den Badenern. „Die vergangenen Jahre waren turbulent, aber ich glaube, dass wir einen guten Weg für die Zukunft gefunden haben. Es wird Ruhe einkehren und ich bin froh, dabei sein zu dürfen. Ich sehe meine berufliche Zukunft auch nach der Karriere in dieser Region.“ Für ein weiteres Jahr bei den Löwen verzichtet Roggisch nach dem selbst verordneten Sparkurs des Klubs auf einen Teil seines bisherigen Gehalts: „Bei einem Sportler müssen die Finanzen auch mal hintanstehen.“

Dem Routinier geht es vor allem um eines: seinen geliebten Sport: Mehr denn je wird der designierte neue Kapitän der Nationalmannschaft fortan aber auch als Mentor für die jungen Spieler im Löwen-Kader gefragt sein: „Mir wurde damals in Essen Dimitri Torgovanov an die Seite gestellt. Das tat mir ganz gut.“

Dass er kein Handball-Ästhet, sondern ein Handball-Athlet ist – mit dieser Rolle hat sich der Rechtshänder längst abgefunden. In seiner Brust schlägt ein Kämpferherz, er liebt das Duell Mann-gegen-Mann, das Ringen um jeden Zentimeter, das hautnahe Gerangel um jeden Ball. Das Abwehrzentrum ist seine Wohlfühlzone, der 33-Jährige geht dahin, wo es wehtut und schont weder sich noch seine Gegner. „Ich bin stark genug, um so etwas auszuhalten“, beschreibt sich der Defensivmann als eher schmerzunempfindlich. Mehr als zehn Mal wurde er in seiner Karriere operiert, vier Mal brach sich der 99-Kilo-Mann die Nase. Zuletzt bei der EM in Serbien. „Sie ist nun noch ein bisschen krummer, als sie es ohnehin war“, sagte der 2,02-Meter-Hüne im Januar.

Nach seiner Karriere will sich Roggisch die Nase richten lassen, aber nicht aus ästhetischen, sondern eher aus praktischen Gründen. Seine Nasenscheidewand ist so kaputt, dass der Rechtshänder durch den Mund atmen und sich deshalb von seinen Kollegen aufziehen lassen muss. Er höre sich auf dem Feld an wie ein Asthmatiker, heißt es aus dem Mannschaftskreis. All das stört ihn nicht, denn auf dem Platz hat der Abwehrmann trotz krummer Nase einen guten Riecher: Oft genug ahnt Roggisch, wo der Gegner den Ball hinspielt und fängt ihn ab. Manchmal kommt er aber auch zu spät – und dann tut es richtig weh, was dem 33-Jährigen den Ruf des bösen Buben eingebracht hat.

Sein Spiel sei nicht immer die feine englische Art, gesteht der Muskelmann. Er wehrt sich aber energisch gegen den Vorwurf, bewusst unfair zu spielen. Und das Raubein-Image lässt ihn sowieso kalt. „Die Leute, die mich nicht kennen, schätzen mich falsch ein. Es besteht ein Unterschied zwischen der Privatperson und dem Sportler Oliver Roggisch.“

In der Tat: Wer diesen auf dem Feld emotionsgeladenen und adrenalingesteuerten Vollblut-Handballer eine halbe Stunde nach Spielende trifft, der hat es mit einem sympathischen und charismatischen Mann zu tun. Der Blondschopf lächelt charmant, spricht schnell, bringt alles haargenau auf den Punkt. Jeder seiner Sätze ist druckreif. Und sein Wort, so viel steht fest, hat Gewicht.

„Keine Zeitstrafe mehr“

Manchmal redet der 33-Jährige auch auf der Platte ein bisschen viel – und zwar mit den Schiedsrichtern. Wenn er sich zu Unrecht bestraft sieht, setzt er eine Unschuldsmiene auf und bittet um Milde. „Ich denke, ich könnte etwas ändern. Aber das stimmt natürlich nicht. Allerdings bin ich schon ruhiger geworden“, beschwichtigt Roggisch und präsentiert eine Lösung, die eine Wette wert wäre: „Da ich keine Zeitstrafe mehr bekommen werde, muss ich nicht mehr diskutieren.“ Späße wie diese sind typisch für ihn. Jeder spürt: Der gelernte Kreisläufer ist mit sich im Reinen. Er hat aus sich das Maximale herausgeholt, mit harter Arbeit und unbändigem Willen den Sprung in die Nationalmannschaft geschafft, wurde Weltmeister und Europapokalsieger mit dem heutigen Löwen-Gegner SC Magdeburg (19.45 Uhr). Auf die Auszeichnungen „Handballer des Jahres“ oder Torschützenkönig wird Roggisch hingegen verzichten müssen. Diese Titel heimsen die anderen ein. Der Abwehrmann weiß das – und ihm ist es egal. Denn über allem steht die Mannschaft.

Von Marc Stevermüer