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Ein Pechvogel als Dauer-Optimist (MM)

Vom Balkan-Krieg geprägt, vom Verletzungspech verfolgt: Zarko Sesum beschwert sich darüber nicht. Der Rückraumspieler der Rhein-Neckar Löwen richtet den Blick nur nach vorn.

Das hintere Kreuzband im linken Knie angerissen, das Innenband auch. Dazu eine Fraktur des Schienbeinkopfes. Die Zuschauerrolle beim EHF-Cup-Finale, ein halbes Jahr Pause. Körperliche und seelische Schmerzen. Kurzum: eine Schock-Diagnose. Sollte man meinen. „Es gibt Schlimmeres“, sagt hingegen Zarko Sesum von den Rhein-Neckar Löwen. Im Europapokal-Halbfinale am 18. Mai gegen Frisch Auf Göppingen hatte sich der serbische Handball-Nationalspieler die schwere Verletzung zugezogen, doch die Kämpfernatur wollte schon damals nicht mit seinem Schicksal hadern, sondern richtete den Blick mit bewundernswerter Zielstrebigkeit nur nach vorn

„Ich habe auf dem Balkan gelernt, mit wirklichen Problemen umzugehen. Das Leben dort war nicht immer einfach“, blickt der 27-jährige Rückraumspieler zurück. Sein Geburtsort Backa Palanka liegt an der Grenze zu Kroatien, Anfang der 90er Jahre bekam er als kleiner Junge die Folgen des Balkankonflikts hautnah zu spüren: „Ich wohnte zwar nicht mitten im Kriegsgebiet, aber natürlich wirkte sich dieser Konflikt auf das ganze Land aus. An Schokolade zu Weihnachten war beispielsweise nicht zu denken.“ Keine Frage: Die harten Jahre auf dem Balkan haben ihn geprägt. Erst recht, als die NATO 1999 in den Kosovo-Krieg eingriff: „Da waren wir bei der Bombardierung schon ein paar Mal nah dran.“

Sesum, damals noch nicht einmal 13 Jahre alt, machte das Beste aus der schwierigen, manchmal sogar gefährlichen Situation. Er versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. Sich abzulenken. Die Angst zu verdrängen. Mit Sport. „Es war die Zeit, in der wir am meisten trainiert haben. Morgens Handball, nachmittags Basketball. Es gab keine Schule, keiner ging zur Arbeit, das Leben spielte sich draußen ab. Denn niemand wusste, wann und wo die Bomben fallen“, sagt der Serbe, der in seiner Karriere schon so viel Pech hatte. Als er noch in Veszprém spielte, wurde er bei einem Disko-Besuch mit Teamkollegen im Februar 2009 in einen Streit verwickelt, der mit Messerstichen und der tödlichen Verletzung von Marian Cozma endete. Sesum wurde schwer am Kopf verletzt, überlebte aber.

Drei Jahre später das nächste Unglück: Bei der EM 2012 im eigenen Land wurde der Familienvater in der Halbzeitpause des brisanten und emotional aufgeheizten Halbfinalspiels gegen den Erzrivalen Kroatien beim Gang in die Kabine von einer Münze am Auge getroffen, seitdem fehlen dem Rückraumspieler 45 Prozent seiner Sehkraft. Das EM-Endspiel fand wenige Tage später wie schon das EHF-Cup-Finale in diesem Jahr ohne ihn statt. „Diesmal ist es wenigstens eine richtige Sportverletzung gewesen“, sagt Sesum, der beim 36:22-Sieg der Löwen am Freitag über den VfL Gummersbach immer noch zuschauen musste, in dieser Woche allerdings ins Mannschaftstraining einstieg. Das sei wie ein kleines Weihnachtsfest gewesen, gewährt der Serbe einen Blick in seine Gefühlswelt und lacht: „Das große Weihnachtsfest folgt, wenn ich wieder auf dem Feld stehe.“

Der variabel einsetzbare Rechtshänder weiß, dass seine lange Leidenszeit bald beendet ist – und hat trotz der langen Zwangspause seinen Humor nicht verloren. „So viele freie Wochenenden hintereinander hatte ich noch nie“, flachst der 27-Jährige und lacht. Töchterchen Lena genoss auf jeden Fall die Zeit mit dem Papa, küsste und streichelte immer wieder das lädierte Knie. Und auch seine Frau Milana stand ihm bei, fuhr ihn in den ersten Wochen nach der Verletzung zu den Reha-Einheiten und Arzt-Terminen. Sesum selbst konnte sich zunächst nicht hinters Steuer setzen. „Als ich die große Schiene nicht mehr tragen musste, durfte ich aber wieder Auto fahren“, sagt der Serbe und grinst: „Zum Glück fahre ich einen Automatikwagen.“

Von Marc Stevermüer