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„Ich möchte, dass jeder Verantwortung übernimmt“

Kristjan Andresson spricht, Romain Lagarde hört zu.
Kristjan Andresson spricht, Romain Lagarde hört zu.

Etwas mehr als eine Woche arbeitet er jetzt mit der Mannschaft. Kristjan Andresson, der neue Chefcoach der Rhein-Neckar Löwen, hat seine ersten Eindrücke gesammelt. Von der Mannschaft, aber auch vom gesamten Klub, von der Region und seinem neuen Zuhause in Walldorf. Dabei hat er nicht viel Zeit, um sich geruhsam einzuleben. Die Arbeitstage im Sportzentrum Kronau, der Trainingsstätte der Löwen, fangen früh an und enden spät. Zwischen den Übungseinheiten, die er sehr genau beobachtet, büffelt der 38-jährige „Neu-Löwe“ fleißig Deutsch. Wir haben ihn in seinem „Arbeitszimmer“ im ersten Stock der Trainingshalle zu seinem ersten Interview als Löwen-Cheftrainer getroffen.

Kristjan, die erste Trainingswoche ist gelaufen, die ersten Termine als Löwen-Coach sind absolviert. Wie sehen deine Eindrücke aus?

Kristjan Andresson: Ich lebe jetzt seit dem 1. Juli in Walldorf und mir gefällt es wirklich gut. Unsere Nachbarn sind sehr freundlich. Man hat hier alles, was man braucht – sogar ein Ikea (lacht). Was den Klub angeht, stimmen mich die ersten Eindrücke sehr positiv. Die Leute auf der Geschäftsstelle sind erfolgshungrig und bereit, für diesen Erfolg auch hart zu arbeiten. Für mich geht es jetzt darum, jene Spieler, die ich noch nicht aus der schwedischen Nationalmannschaft kenne, nach und nach genau kennenzulernen, insbesondere, was den Charakter angeht und welcher Mensch sich hinter dem Handballer verbirgt. Das wird jetzt eine intensive Zeit. Bis jetzt kann ich jedenfalls nichts Negatives sagen. Sorgen mache ich mir höchstens wegen der anstehenden Hitzewelle, solche Rahmenbedingungen kenne ich noch nicht. Aber da vertraue ich ganz den Erfahrungen aus meinem (Trainer-)Team.

Erzähle uns ein bisschen aus deiner Biografie: Die meiste Zeit deines Lebens hast du im schwedischen Eskilstuna verbracht…

Kristjan Andresson und Uwe Gensheimer im Gespräch.
Kristjan Andresson und Uwe Gensheimer im Gespräch.

Meine Familie kommt ursprünglich aus Island, wir haben auch alle die isländische Staatsbürgerschaft. 1980 ging es dann aus beruflichen Gründen nach Eskilstuna in Schweden, wo ich 1981 auf die Welt gekommen bin und bis auf eine kurze Unterbrechung bis zu diesem Sommer mein gesamtes Leben verbracht habe. Dennoch fühle ich mich genauso als Isländer wie als Schwede.

„Auf den Job bezogen ist der größte Unterschied, dass ich als Trainer in Eskilstuna quasi alleine gearbeitet habe“

Kristján Andresson

Wenn du deine alte Heimat Schweden mit deinem neuen Zuhause in Deutschland vergleichen müsstest: Was der größte Unterschied, der dir als erstes in den Sinn kommt?

In Eskilstuna haben wir lange außerhalb der Stadt gelebt, quasi auf dem Land. Irgendwann sind uns die Wege zu weit geworden, vor allem, als die Kinder größer wurden und angefangen haben, im Verein Sport zu machen. Da waren wir dann praktisch nur noch am Fahren. In Walldorf ist alles so schön beisammen. Wir haben alles in direkter Nachbarschaft: Schwimmbad, den FC-Astoria als großen Sportverein, Schule, Kindergarten. Diese kurzen Wege gefallen mir sehr. Auf den Job bezogen ist der größte Unterschied, dass ich als Trainer in Eskilstuna quasi alleine gearbeitet habe. Da gab es nur Kristjan – und sonst nichts (lacht). Bei der Nationalmannschaft war das etwas anderes. Aber bei meinem Stammverein, Eskilstuna Guif, war ich auf mich allein gestellt. Hier jetzt mit einem großen Stab zusammenzuarbeiten, ist ein sehr großer Unterschied für mich.

Für dich ist es das erste Mal, dass du für längere Zeit die Heimat verlässt, im Ausland lebst und arbeitest. Das muss ein großer Schritt für dich persönlich sein, nach außen wirkst du aber sehr entspannt und cool. Bist du wirklich so gelassen – oder nur ein guter Schauspieler?

Niclas Kirkelökke unterhält sich mit dem neuen Löwen-Coach.
Niclas Kirkelökke unterhält sich mit dem neuen Löwen-Coach.

Jeder, der mich genauer kennt, weiß, dass ich einfach ein entspannter Typ bin. Das gilt auch privat. Mit meiner Frau streite ich sehr selten und lege großen Wert darauf, dass wir uns auf einer Wellenlänge bewegen. Auch als Trainer bin ich eher ruhig und niemand, der die ganze Zeit aus sich herausgeht.

„Eines ist klar: Was wir in diesem Monat Vorbereitung nicht schaffen, werden wir später nicht mehr nachholen können“

Kristján Andresson

Also kein Jürgen-Klopp-Typ?

Nein. Aber ich mag ihn sehr, nicht zuletzt als Fan des FC Liverpool (lacht). Als Trainer und Anführer möchte ich einfach bestimmt und konkret sein in dem, was ich tue. Natürlich kann ich auch emotional oder ungehalten werden. Das passiert, wenn sich jemand aus meinem Team nicht so verhält, wie ich das von ihm erwarte. Sprich: Er macht nicht seinen Job oder er gibt nicht sein Bestes. Natürlich weiß ich, dass es Höhen und Tiefen gibt, und ich bin keinem böse, wenn er mal eine Chance auslässt oder einen Fehler macht. Aktuell versuche ich in erster Linie, meine Zeit und meine Arbeit hier zu genießen und meinen Job mit Freude anzugehen. Denn eines ist klar: Was wir in diesem Monat Vorbereitung nicht schaffen, werden wir später nicht mehr nachholen können.

Du bist sehr früh Trainer geworden aufgrund von schweren Verletzungen. Hattest du eine Trainerkarriere schon immer im Hinterkopf oder kam es – als Reaktion auf die Verletzungen – spontan dazu?

Scherzen mit Gede: Kristjan Andresson und sein Abwehrchef.
Scherzen mit Gede: Kristjan Andresson und sein Abwehrchef.

Eigentlich hatte ich als angehender Profi davon geträumt, eines Tages in der Bundesliga zu spielen. Oder beim FC Barcelona, der damals, um das Jahr 2000 herum, richtig groß war in Europa. Dann habe ich mir eine schwere Fußverletzung zugezogen, aufgrund derer ich fast 13 Monate komplett raus war aus dem Handballsport.

Kurze Zeit, nachdem ich endlich wieder zurück war, ist mir zweimal nacheinander das Kreuzband in beiden Knien gerissen und ich war wieder monatelang weg. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass ich körperlich nicht mehr auf das Level komme, um auf dem Feld voll da zu sein, wenn es darauf ankommt. Da habe ich entschieden: Nach drei schweren Verletzungen im Alter von 21 bis 24 Jahren reicht es jetzt.

Aber du wolltest weiter nahe am Handball sein…

Ja. Man könnte auch sagen: Ich war noch nicht fertig mit Handball. Just als ich vom aktiven Sport zurückgetreten war, suchten sie bei Guif einen neuen Co-Trainer, und ich hatte große Lust, weiter Teil des Teams zu sein. In der nächsten Saison fand sich dann kein Nachfolger für den frei gewordenen Cheftrainer-Posten – und ich bekam die Chance. Im Alter von 26 Jahren. In der höchsten schwedischen Liga. Das war natürlich überragend für mich und meine weitere Entwicklung. Zu dieser Zeit hatte ich auch angefangen, im Personalwesen einer Bank zu arbeiten, da ich ja wusste, mit dem Profihandball wird es nichts mehr werden. Und so habe ich meine Führungsqualitäten in beiden Bereichen parallel schulen können.

Wie muss man sich diesen Lernprozess konkret vorstellen? Welche Vorbilder und welche Lehrer hattest du? Und von wem hast du am meisten gelernt?

Kristjan Andresson bespricht die Lauftest-Ergebnisse.
Kristjan Andresson bespricht die Lauftest-Ergebnisse.

Ich habe von vielen Leuten sehr viel gelernt. Zunächst einmal von den Trainern, die ich in meiner Jugend und in meinen Jahren bei der Herrenmannschaft hatte. Während meiner Bankausbildung habe ich an einigen Seminaren für Führungskräfte teilgenommen. In Sachen Handball habe ich die schwedische Trainerschule absolviert und diese 2016 abgeschlossen. Über meinen Vater habe ich dann auch Kontakt zu Alfred Gislason bekommen und ihn in meiner Anfangszeit als Coach in Guif mehrmals besucht, da hat er gerade seinen Trainerposten beim THW Kiel bezogen. Auch mit Gudmundur Gudmundsson (Löwen-Trainer von 2010 bis 2014, Anm. d. Red.) habe ich mich seinerzeit austauschen können. Ich habe generell versucht, mir von vielen guten Trainern etwas abzuschauen. Inspirieren lasse ich mich gerne auch von Trainern in der NFL und der NBA (den amerikanischen Profiligen im Football und Basketball, Anm. d. Red.).

„Generell versuche ich, so viele Einflüsse wie möglich aufzunehmen“

Kristján Andresson

Was gefällt dir an dieser speziellen Art der Trainingsgestaltung?

Ich mag diese großen Trainerstäbe und das ausgefeilte Arbeiten an allen möglichen Details. Dabei geht es mir vor allem auch um einen guten Draht zueinander und einen guten Dialog untereinander. Ich finde, dass diese Art von Zusammenarbeit jedes Unternehmen nach vorne bringt, egal um welche Branche es geht. Generell versuche ich, so viele Einflüsse wie möglich aufzunehmen, auch um zu sehen, ob ich gerade auf dem richtigen Weg bin. Ich sehe mich noch lange nicht am Ende meiner Entwicklung als Trainer und denke, dass ich noch sehr viel lernen kann.

Würdest du dich selbst als demokratischen Trainer beschreiben?

Der neue Coach hat offenbar Humor.
Der neue Coach hat offenbar Humor.

Durchaus (lacht). Ich arbeite schließlich mit Menschen und gehe im Falle meiner Spieler davon aus, dass es sich um intelligente Menschen handelt mit dem Willen, sich als Handballer stetig weiterzuentwickeln. Entsprechend wichtig ist mir der Dialog mit den Spielern.

Ich möchte, dass jeder Einzelne Verantwortung übernimmt für seine individuelle Entwicklung, aber auch für die Entwicklung aller als Mannschaft. Ich bin kein Trainer, der jeden Schritt vorgibt. Jeder Spieler soll seine Entwicklung selbst in die Hand nehmen. Ich bin dafür da, die Spieler auf diesem Weg zu unterstützen. Wenn dieses Unterstützen bedeutet, dass ich ab und zu auch undemokratisch sein muss, dann muss das eben sein. Am Ende des Tages ist es mein Job, der Boss zu sein und Entscheidungen zu treffen. Aber es muss eine Entscheidung sein, mit der ich leben kann. Mein Ziel ist es, ein Umfeld zu schaffen, in dem die Spieler gerne zum Training kommen und mit Spaß bei der Arbeit sind.

Arbeit bedeutet dabei?

Nicht nur das Körperliche. Auch die Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Letztlich entscheiden Details darüber, wer zum Beispiel die Bundesliga oder den Pokal gewinnt. Flensburg hat im vergangenen Herbst viele Spiele mit nur einem Tor Vorsprung für sich entschieden. Das hatte etwas damit zu tun, die Konzentration hoch zu halten in den entscheidenden Momenten. Und so haben sie dann auch die Meisterschaft geholt mit gerade einmal zwei Punkten Vorsprung.  

Lass uns über deine Handball-Philosophie sprechen: Du betonst immer wieder die Bedeutung von Abwehr und Gegenstoß. Ist das die Basis deines Spielsystems?

Coach Andresson und sein Sportlicher Leiter Oli Roggisch.
Coach Andresson und sein Sportlicher Leiter Oli Roggisch.

Ich denke, das ist die Basis für jeden, der erfolgreichen Handball spielen will. Mit einer guten Abwehr macht man es dem Gegner schwer, Tore zu erzielen, und kommt umgekehrt über Gegenstöße zu einfachen Toren. Meiner Meinung nach haben wir fantastische Außen, die dieses Prinzip ideal umsetzen können. Aber wir haben auch die Spieler, um aus dem Positionsangriff gefährlich zu sein. Andy Schmid spielt seit Jahren auf einem außergewöhnlichen Level und hat in der vergangenen Saison mit Jannik Kohlbacher am Kreis viel Verantwortung übernommen. Ich möchte, dass wir das auf mehrere Schultern verteilen, zumal wir auf allen Positionen klasse besetzt sind und viele Möglichkeiten haben.

„Wenn eine Mannschaft Vierter wird und alle unzufrieden damit sind, ist das eigentlich ein gutes Zeichen für mich als Trainer und zeigt, wie ehrgeizig die Jungs hier sind“

Kristján Andresson

Inwiefern haben sich deine Beobachtungen der vergangenen, weniger erfolgreichen Saison in deinen Planungen für die kommende Spielzeit niedergeschlagen? Welche Erkenntnisse hast du gewonnen?

Die jüngste Entwicklung bei den Löwen ist bei vielen anderen Klubs genauso zu beobachten: Zunächst sind die Erwartungen nicht so hoch. Dann gewinnt man die ersten Titel und die Erwartungen steigen deutlich. Man verpasst den nächsten Titel um Haaresbreite – und die Enttäuschung ist riesig. Es ist einfach verdammt schwer, dauerhaft an der Spitze zu bleiben, was alleine schon die harte Konkurrenz in der Bundesliga mit sich bringt. In der vergangenen Saison kamen aus Löwen-Sicht noch die Integration vieler neuer Spieler und ein paar schwerwiegende Verletzungen dazu, außerdem ein schmerzhafter Punktverlust zuhause gegen Leipzig früh in der Saison, während Flensburg einfach jedes Spiel gewann. Die Jungs haben sich auch ihre Gedanken darüber gemacht und wollen es unbedingt besser machen. Wenn eine Mannschaft Vierter wird und alle unzufrieden damit sind, ist das eigentlich ein gutes Zeichen für mich als Trainer und zeigt, wie ehrgeizig die Jungs hier sind.  

Du verfolgst schon länger die Entwicklung der Löwen?

Auf dem Weg zum Lauftest: Kristjan Andresson.
Auf dem Weg zum Lauftest: Kristjan Andresson.

Als Handball-Nerd schaue ich mir die Bundesliga schon seit den frühen 1990er Jahren an. Damals stand Magnus Wislander noch als Spielmacher auf dem Feld, woran man sehen kann, wie lange das her ist (lacht). Ich habe die knapp verpasste Meisterschaft der Löwen genauso miterlebt wie die erfolgreiche Phase unter Nikolaj Jacobsen.

Dann hast du auch gesehen, dass die Löwen immer gut sind für ein Handball-Drama…

Ja, das stimmt wirklich (lacht). Ich liebe das. Natürlich ist es am besten, wenn man gewinnt. Ich habe selbst schon einige Dramen erlebt auf dem Handballfeld und weiß, wie sich beides anfühlt: verlieren und gewinnen. Deswegen lieben wir ja unseren Sport so, weil er uns so wichtig ist und er uns ein wundervolles Gefühl gibt, wenn wir gemeinsam etwas Großes erreichen. Deshalb haben wir auch vor, uns in allen Wettbewerben zu beweisen und um Titel mitzuspielen. 

Zur Person: Kristjan Andresson ist 38 Jahre alt und besitzt sowohl die isländische, als auch die schwedische Staatsbürgerschaft. Mit 26 wurde er Co-Trainer der Erstliga-Mannschaft seines Heimatklubs Guif, mit 27 Chef-Coach. 2016, nach neun erfolgreichen Jahren als Guif-Trainer, wechselte er auf den Trainerposten der schwedischen Nationalmannschaft. Dort machte er erstmals international auf sich aufmerksam, als er mit einer recht jungen Mannschaft überraschend ins Finale der Europameisterschaft 2018 einzog. Bei den Löwen hat er einen Vertrag bis Sommer 2022 unterschrieben.