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Im Kampf um Europas Krone

Köln. Vor zwölf Monaten schaute er nur zu. Aus größerer Entfernung – und zwar notgedrungen. Oliver Roggisch tat das richtig weh. Denn der Abwehr-Spezialist der Rhein-Neckar Löwen hätte lieber auf der Platte gestanden, in der Deckung seinen Körper eingesetzt und um den Titel gekämpft. Doch sein Klub hatte sich nicht für das Final Four der Champions League qualifiziert.

Hauchdünn erfolgte der K.o. im Viertelfinale gegen den THW Kiel, hautnah erlebte Roggisch einige Wochen später mit, wie sich die Norddeutschen vor fast 20 000 Zuschauern im Hexenkessel von Köln die bedeutendste und begehrteste Trophäe im internationalen Vereins-Handball sicherten. Es war ein episches Endspiel zwischen dem deutschen Rekordmeister und dem FC Barcelona, dazu die legendäre Halle und die gigantische Stimmung. Damals hatte Roggisch nur einen Wunsch: „Im nächsten Jahr will ich hier auf der Platte stehen.“

Diesen Traum wird sich das Kraftpaket des badischen Bundesligisten morgen erfüllen. Die Löwen haben es geschafft, sie sind dabei bei der Jagd nach Europas Krone und wollen den ersten Titel der Vereinsgeschichte in jener Arena gewinnen, in der Roggisch und Henning Fritz 2007 Weltmeister wurden. Wer weiß, vielleicht ist das ein gutes Omen.

Hoffen auf Ende des Vize-Fluchs

Die Sehnsucht nach dem ersten Titel, das Streben nach Glücksgefühlen – es soll jetzt endlich von Erfolg gekrönt sein. „Wir haben schon so viele Endspiele verloren. Uns fehlt eine Trophäe“, gibt der umstrittene Aufsichtsratsvorsitzende Jesper Nielsen ohne Umschweife zu. Er kennt die Historie des jungen Mannheimer Klubs. Oft waren die Löwen ganz nah dran am großen Wurf, doch für einen Titel reichte es nie.

Die Gelbhemden verloren seit 2006 drei DHB-Pokalendspiele und das Finale um den Europacup der Pokalsieger. Angesichts dieser vielen bitteren und unglücklichen Niederlagen könnte man meinen, ein Fluch liegt über diesem Klub. Das Image des ewigen Zweiten haftet den Löwen an, sie sind die Jäger des verlorenen Pokals. Ein Triumph in der Königsklasse wäre da das größtmögliche Ausrufezeichen und mehr als nur ein Trostpflaster für die vorangegangenen Endspiel-Niederlagen. „Man stelle sich einmal vor, unsere erste Trophäe holen wir in der Champions League“, philosophiert Nielsen: „Das wäre ein Riesending.“

„Teilnahme ein Geschenk“

Als Favorit gehen die Badener in der Rheinmetropole allerdings nicht an den Start. Darin sind sich alle einig. Schon im Halbfinale am Samstag (15.15 Uhr) wartet ein ganz dicker Brocken auf die Mannschaft von Trainer Gudmundur Gudmundsson: Vorjahresfinalist Barcelona. „Es wäre vermessen, zu denken, wir fahren nach Köln und schlagen diesen Gegner. Für uns ist es ein Geschenk, bei diesem Turnier dabei zu sein. Das ist wie eine kleine Weltmeisterschaft“, hält Manager Thorsten Storm den Ball betont flach und hat dabei wohl noch das unerwartete Halbfinal-Aus im DHB-Pokal vor drei Wochen gegen die SG Flensburg-Handewitt im Hinterkopf. Im Umkehrschluss bedeutet dieser bittere K.o. in Hamburg aber auch: Bei einem Final Four ist immer alles möglich. Für jede Mannschaft. Auch in Köln. Zwei Tage, zwei Spiele, zwei Siege – und schon sitzt man auf Europas Thron.

Warum sollte das nicht auch den Löwen gelingen? „In der Champions League haben wir in dieser Saison unsere besten Spiele gezeigt“, erinnert sich Storm an die furiose Aufholjagd im Viertelfinale gegen Montpellier, dramatische Schlusssekunden in Kielce und gegen Celje sowie zwei wahnsinnig aufregende Duelle mit dem morgigen Gegner.

Schon in der Vorrunde begegneten sich die beiden Teams, die Löwen gewannen in Gudmundssons erstem Spiel überraschend auswärts bei den Katalanen (31:30) im ehrwürdigen Palau Blaugrana und retteten im Rückspiel ein 38:38-Unentschieden, nachdem die Badener zwischenzeitlich deutlich mit acht Treffern geführt hatten.

„Das waren ganz tolle Spiele“, denkt Storm gerne an diese Duelle zurück. Die Erinnerungen steigern bei ihm die Vorfreude auf das Final Four, „an dem wir völlig verdient teilnehmen“, wie der Manager betont: „Wir haben von allen Mannschaften den weitesten Weg hinter uns, mussten uns erst über ein Wild-Card-Turnier qualifizieren und uns dann in der mit Abstand schwierigsten Vorrundengruppe behaupten. Das waren echte Mammutaufgaben.“ Keine Frage: Der Geschäftsführer ist stolz auf das Erreichte und will das Final Four genießen, die gigantische Atmosphäre aufsaugen – und die jüngsten Rückschläge ausblenden. „Ich lasse mir die Vorfreude nicht nehmen.“

Das gilt auch für die Mannschaft. „Im internationalen Klub-Handball gibt es keine bessere Veranstaltung. Dieses Turnier ist das Maß aller Dinge“, sagt der nach wie vor angeschlagene Regisseur Børge Lund – und der muss es wissen. Vor zwölf Monaten gewann der Norweger mit Kiel den Titel. Er schwang sich in der Schlussphase zur entscheidenden Figur auf, feierte nach dem Schlusspfiff frenetisch. Roggisch sah das alles aus der Entfernung. Diesmal steht er auf der Platte. Und gegen einen gemeinsamen Jubel mit Lund am Sonntagabend hätte der Abwehrstratege sicherlich nichts einzuwenden.

Von Marc Stevermüer

 27.05.2011