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„Löwen müssen sich nicht verstecken“ (MM)

Scheidender Trainer Gudmundur Gudmundsson spricht über seinen Frust, künftige Titelchancen des Vizemeisters und die Umstände seines Abschieds

Mannheim. Schon seit Montag ist Gudmundur Gudmundsson in Island. Nach der verpassten Meisterschaft befindet sich der scheidende Trainer der Rhein-Neckar Löwen auf Heimaturlaub. Ab Juli ist er für die dänische Nationalmannschaft verantwortlich und wird den Bundesligisten aus der Ferne beobachten. Er traut der Mannschaft auch in der nächsten Saison viel zu.

Herr Gudmundsson, wie oft kreisen ihre Gedanken noch um den letzten Spieltag?
Gudmundur Gudmundsson: Ganz ehrlich: Ich denke noch sehr viel an die verpasste Meisterschaft. Ich schlafe schlecht, sehe Szenen aus dem Spiel in Gummersbach vor meinem Auge oder lasse die ganze Saison noch einmal Revue passieren. Immer wieder frage ich: Wo haben wir die paar Tore liegenlassen, die uns zur Meisterschaft gefehlt haben.

Es dürfte schwierig werden, eine Antwort darauf zu finden.
Gudmundsson: Das stimmt. Denn ich kann meiner Mannschaft überhaupt nichts vorwerfen. Wir haben neun Minuspunkte auf dem Konto, 17 Heimspiele und alle Partien in der Rückrunde gewonnen. Es war auch ohne Titel die beste Saison der Vereinsgeschichte.

Fühlt sich die Saison trotzdem unvollendet an?
Gudmundsson: Ja, ein bisschen schon. In der Champions League sind wir auch ganz bitter aufgrund der weniger erzielten Auswärtstreffer gegen Barcelona ausgeschieden. Diese Mannschaft hätte einen Titel verdient gehabt, denn sie hat einen nahezu perfekten Job gemacht. Der THW Kiel hat in den letzten fünf Spielen ein Torverhältnis von plus 75 herausgeschossen – und das praktisch nur gegen Gegner aus der ersten Tabellenhälfte. Es lag also nicht nur an uns und den Kielern, wie die Meisterschaft ausgeht, sondern auch an den Gegnern.

Die Löwen gingen mit sieben Treffern Vorsprung in den letzten Spieltag.
Gudmundsson: Ein Fünf-Tore-Sieg in Gummersbach war zu wenig. Aber deswegen kann ich meiner Mannschaft keinen Vorwurf machen. Wahrscheinlich hätte sogar ein Sieg mit acht oder neun Toren nicht gereicht, denn Kiel führte gegen Berlin ja auch schon deutlicher als mit 14 Treffern. Der THW wusste, welches Ergebnis ihm reicht, da die Partie ein paar Minuten später angepfiffen wurde. Warum das so war, kann ich nicht verstehen.

Haben Sie schon Kontakt zu den Berlinern gehabt, die mit 23:37 in Kiel untergingen?
Gudmundsson: Nein. Ich bin einfach nur enttäuscht von den Füchsen. Wir reden hier vom Pokalsieger und vom Tabellenfünften, der sich in Kiel seinem Schicksal ergeben hat.

Bei allem Schmerz – es war trotzdem eine großartige Saison.
Gudmundsson: Niklas Landin wurde zum besten Torwart gewählt, Andy Schmid zum besten Spieler und ich zum besten Trainer. Das fühlt sich dann schon ein bisschen so an, als wenn wir eigentlich der logische Meister wären. Ich bin auf jeden Fall sehr stolz auf mein Team. Vor allem auf die Art und Weise, wie es Handball gespielt hat.

Was haben Sie an Ihren Spielern besonders geschätzt?
Gudmundsson: Die Bereitschaft, immer bis zum Schlusspfiff alles zu geben und niemals nachzulassen. Der Zusammenhalt dieser Mannschaft ist überragend. Und ganz besonders dankbar bin ich den Spielern, die nicht so viel zum Einsatz gekommen sind. Niemand war beleidigt, sondern hat immer an das große Ganze gedacht. Diese Ehrlichkeit und dieser einwandfreie Charakter waren einzigartig. Ich wäre nicht zum besten Trainer gewählt worden, wenn es mir die Jungs nicht so einfach gemacht hätten. Es war nicht schwierig, diese Mannschaft zu führen.

Sie haben aber auch ganz andere Zeiten erlebt. Als Sie 2010 zu den Löwen gekommen sind, waren die Erwartungen immens und es herrschte sehr viel Unruhe.
Gudmundsson: Die ersten zwei Jahre waren turbulent. Wir qualifizierten uns zwar fürs Final Four der Champions League, aber gewannen keinen Titel. Von den Einzelspielern her war das Team sehr gut besetzt, aber sie passten nicht richtig zusammen. Es war schwierig für mich. Vor allem, als im Frühjahr 2012 klar wurde, dass die halbe Mannschaft den Verein am Saisonende verlassen wird. In so einer Situation ist es kompliziert, das Kollektiv einigermaßen zusammenzuhalten.

Auch Sie waren nicht immer unumstritten.
Gudmundsson: Das stimmt. Aber ich habe immer gesagt, dass ein Trainer Zeit und Kontinuität braucht, um etwas aufzubauen. Dass Erfolg auch mit weniger Geld möglich ist, haben wir nach dem Umbruch 2012 bewiesen. Erst seit diesem Zeitpunkt ist diese Mannschaft auch wirklich meine Mannschaft. Denn von da an konnte ich meine eigenen Vorstellungen einbringen. Es gelang prompt der Sieg im EHF-Pokal 2013 – ein Meilenstein in der Vereinsgeschichte.

Die Meisterschaft wäre die Krönung gewesen. Kommt für die Löwen so eine Chance noch einmal?
Gudmundsson: Das hoffe ich doch. In großen Niederlagen werden oft große Mannschaften geboren. Dieses Team ist stabil und verfügt über eine ausgesprochene Siegermentalität. Deswegen traue ich es diesen Jungs auch zu, dass sie auf die knapp verpasste Meisterschaft die richtige Antwort finden werden. Die Stammformation bleibt komplett, es kommen starke Neuzugänge dazu. Es gibt für die Löwen keinen Grund, sich zu verstecken. Ich wünsche dieser Mannschaft, dass sie das nachholt, was sie jetzt ganz knapp verpasst hat. Denn die Entwicklung der vergangen zwei Jahre ist kein Zufall.

Sie selbst haben sich schon im Oktober dazu entschieden, trotz eines bis 2015 gültigen Vertrags von einer Ausstiegsklausel Gebrauch zu machen und ab Juli die dänische Nationalmannschaft zu betreuen. Bereuen Sie diese Entscheidung?
Gudmundsson: Nein, auf keinen Fall. Es ist eine große Ehre, Trainer dieser Nationalmannschaft zu sein. Als ich mich damals dazu entschlossen hatte, blieb mir zu diesem Zeitpunkt keine andere Wahl. Erst gab es ein loses Interesse des dänischen Verbandes, dann eine Anfrage und schließlich ein Angebot. Über alles waren die Löwen zu jeder Zeit informiert. Es gab allerdings keine ernsthaften Bemühungen des Vereins, mich unbedingt behalten zu wollen. Deswegen musste ich abwägen: Bleibe ich bei den Löwen, wo mein Vertrag 2015 endet? Oder gehe ich zum dänischen Verband, der mich bis 2017 binden will? Ich habe mich schließlich für den Job als Nationaltrainer entschieden und stehe zu 100 Prozent hinter dieser Entscheidung.

Von Marc Stevermüer