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Schlag zwischen die Beine (MM)

Löwen-Trainer Gudmundur Gudmundsson wird nach 28:32-Niederlage von Kielces Trainer Duschebajew tätlich angegriffen

KIELCE. In Talant Duschebajew brodelte es. Wut hatte sich im Trainer von Vive Kielce aufgestaut – nur wusste keiner so genau, warum. Schließlich hatte seine Mannschaft das brisante Achtelfinal-Hinspiel in der Champions League gegen die Rhein-Neckar Löwen mit 32:28 (17:13) gewonnen. „Ich verlange von Gudmundur Gudmundsson mehr Respekt“, ging der Starcoach erst gar nicht auf das Spiel ein, sondern attackierte umgehend den neben ihm sitzenden Kollegen. Und der staunte nicht schlecht, als Duschebajew ihm dann auch noch unterstellte, ihn während der Partie mit einer obszönen Geste beleidigt zu haben.

„Du Lügner“

„Du bist ein Lügner“, fiel der fassungslose Gudmundsson dem Kielcer Trainer ins Wort: „In meiner ganzen Karriere habe ich nie erlebt, dass jemand so sehr lügt.“ Um seiner Unterstellung Nachdruck zu verleihen, wiederholte der Vive-Coach die angeblich vorgefallene Beleidigung immer wieder. Mit Gesten. Mit Worten. Es folgte nach einem ebenso imposanten wie emotionalen Spiel die dritte Halbzeit. Und die war mindestens genauso explosiv. „Fragt ihn, was er gemacht hat. Fragt ihn!“, forderte Duschebajew die Journalisten auf, während Gudmundsson nur noch entgeistert den Kopf schüttelte. Keine Frage: Nach 60 hart umkämpften, spannenden und dramatischen Minuten nutzte Kielces Trainer die Gelegenheit, um sich als Feindbild Nummer eins für die Löwen zu positionieren. Denn er weiß: Vier Tore Vorsprung reichen im mit Spannung erwarteten Rückspiel am 31. März (19 Uhr/SAP Arena) vielleicht nicht.

Als die Pressekonferenz beendet war, ignorierte Gudmundsson seinen Kollegen. Und Duschebajew? Der stürmte schnurstracks aus dem Raum. Er ging zu seiner Mannschaft, wechselte die Garderobe, tauschte das legere Poloshirt gegen einen hellblau glänzenden Anzug. Der Startrainer tauschte die Rollen, posierte mit den Fans für Fotos, schrieb Autogramme – und nahm sich Zeit für diese Zeitung. „Gott soll mich bestrafen, wenn ich lüge. Aber das wird er nicht. Die Strafe wird einen anderen treffen“, meinte der ehemalige Weltklasse-Handballer, der sich immer noch nicht beruhigt hatte.

Schon während des Spiels war er in seinem Element, in seiner eigenen Welt. Der 45-Jährige dirigierte und gestikulierte, schimpfte und jubelte. Genauso wie Gudmundsson. Beide Trainer gingen die Außenlinie rauf und runter – und begegneten sich nach dem Schlusspfiff hautnah. Sie schauten sich in die Augen, waren nicht zu trennen, lieferten sich ein Wortgefecht – und es kam zu einer Auseinandersetzung.

Eine schlagende Bewegung von Duschebajew Richtung Unterleib, ein Zusammensacken von Gudmundsson – das zeigen die TV-Bilder. Ob Kielces Trainer den Löwen-Coach getroffen hat, beweisen die Aufnahmen nicht eindeutig. Gudmundsson wollte sich dazu nicht äußern, dafür aber Manager Thorsten Storm. „Wir akzeptieren, dass wir verloren haben und legen keinen Protest gegen die Spielwertung ein. Aber wir nehmen nicht hin, dass unser Trainer von seinem Kollegen geschlagen wird. Gudmundur hat mir davon berichtet – und die Fernsehbilder lassen diese Deutung auch zu“, sagte der Manager, der die Europäische Handball-Föderation EHF über den Vorfall informierte und den Verband auffordert, gegen Duschebajew tätig zu werden: „Wir sind von der EHF schon bestraft worden, weil wir Fahnen im Hallen-Foyer falsch aufgehängt haben. Das hier ist eine ganz andere Dimension. Im Handball geht es nicht nur um Titel, sondern auch um eine Vorbildfunktion. Soll ein 14-Jähriger, der in Großsachsen spielt und diese Partie gesehen hat, demnächst auch seinen Gegenspieler schlagen? Das geht nicht!“

Im Vier-Augen-Gespräch eine Stunde nach dem Schlusspfiff blieb Duschebajew bei seinem Vorwurf, zum Handgemenge sagte er nichts. Stattdessen nannte er den Löwen-Trainer einen Wiederholungstäter: „Die gleiche Geste hat Gudmundur schon einmal gezeigt, als er mit der isländischen Nationalmannschaft gegen Spanien gespielt hat.“ Das habe man ihm berichtet.

Duschebajew, das Opfer? Unwahrscheinlich. Er gilt zwar als Titel-Garant und Magier. Doch die Vergangenheit hat auch gezeigt: Dieser Mann provoziert und polarisiert, gefällt sich als Schauspieler. Je mehr gegen ihn sind, desto besser fühlt er sich. Er nennt es Selbstbewusstsein, andere Arroganz.

Fairplay Fehlanzeige

Im Hexenkessel von Kielce verlor er allerdings die Kontrolle. Von der ersten Minute an war die Atmosphäre hitzig, schon beim Aufwärmen veranstalteten die Fans einen Höllenlärm. Der Hallensprecher forderte sie anschließend auf, die Löwen „niederzumachen“. Gesagt. Getan. Beim Einmarsch in die Arena wurde der EHF-Pokalsieger mit einem Pfeifkonzert empfangen, was im Handball unüblich ist und mit den Fairplay-Vorstellungen der EHF nichts zu tun hat.

Den Badenern war’s egal, letztendlich erkämpften sie sich eine ordentliche Ausgangsposition. „Wir müssen vier Tore aufholen, das ist machbar“, sagte Regisseur Andy Schmid: “ Zu Beginn sind wir ein wenig überfahren worden, doch dann haben wir uns zurückgekämpft.“ Nach einem 7:15 (21.) glichen die Löwen zwischenzeitlich zum 19:19 (37.) aus, eine schlechte Chancenverwertung und ein schwaches Überzahlspiel verhinderten danach ein besseres Ergebnis als das 28:32. „Wir haben viel Luft nach oben“, sagte Gudmundsson, den Duschebajews Auftritt spürbar mitgenommen hatte: „Ich fasse es nicht. Dieser Mann ist unglaublich.“

Außer Frage steht auf jeden Fall: Eine bessere Motivation für das Rückspiel gibt es nicht.

Von Marc Stevermüer