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Vom Chaos-Klub zum Spitzenreiter (MM)

Die Rhein-Neckar Löwen bezwingen die HSG Wetzlar mit 31:29 und sorgen nach dem Umbruch unerwartet früh für positive Schlagzeilen

War dieser makellose Saisonstart zu erwarten?

Nein. Sieben Neuzugänge müssen integriert werden, fünf Profis und Trainer Gudmundur Gudmundsson weilten zudem bei den Olympischen Spielen. Vor der ersten Partie in Göppingen blieben nur zehn Tage, um mit dem kompletten Kader zu trainieren. „Gerade im Handball braucht man aber Zeit, weil es auf Automatismen ankommt“, sagt Kapitän Uwe Gensheimer. Gudmundsson ist überrascht ob der tollen Zwischenbilanz: „10:0 Punkte waren nicht zu erwarten.“

Was sind die Gründe für diesen Traumauftakt?

Den Grundstein für die Siege über Göppingen, Melsungen, Lübbecke und Großwallstadt legten die Abwehr sowie die überragenden Torhüter Niklas Landin und Goran Stojanovic. Gegen Wetzlar passte die Defensivleistung nur phasenweise, trotzdem ist die Deckung das Prunkstück. Zudem präsentiert sich das Team wirklich als Einheit. „Es mag nach einer Floskel klingen, aber der eine ist für den anderen da. Das war in der Vergangenheit nicht immer so“, berichtet Andy Schmid. Ähnliches ist von Oliver Roggisch zu hören: „Solch eine Geschlossenheit habe ich bei den Löwen noch nicht erlebt.“ Trainer Gudmundsson unterstreicht, dass man bei den Neuverpflichtungen auf den Charakter geachtet habe. Man wollte Siegertypen verpflichten. „Unser erstes Ziel in jedem Spiel ist es, mit Leidenschaft und Wille zu agieren“, sagt der Isländer: „Das haben wir in allen Partien geschafft. Und deshalb haben wir auch gegen Wetzlar trotz einer phasenweise schlechten Leistung gewonnen.“

Wie schlagen sich die Neuzugänge?

Alexander Petersson (23 Treffer) und Kim Ekdahl du Rietz (22) drücken der Offensive ihren Stempel auf und sorgen für einfache Tore aus dem Rückraum. Zudem sind sie gute Abwehrspieler. Torwart Landin hat in Göppingen und gegen Lübbecke die Punkte festgehalten. Senkrechtstarter Marius Steinhauser, in der vergangenen Saison noch in der A-Jugend und in der Oberliga am Ball, trumpft unbekümmert auf. Isaías und Gedéon Guardiola deuteten ihre Klasse insbesondere in der Abwehr an, sind aber nicht richtig ins Offensivspiel integriert. Auch Matthias Gerlich muss seine Rolle erst noch finden.

Haben die Löwen aus der Vergangenheit gelernt?

Bislang sieht es zumindest danach aus. Das Chaos rund um die quälend lange dauernde Trennung von Geldgeber Jesper Nielsen sowie die unrealistischen Versprechen des Dänen haben bei den Löwen Spuren hinterlassen. Sie sind fast schon zu bescheiden geworden. Denn nicht immer ist der Gegner der Favorit – auch wenn das gerne so verkauft wird. Trotzdem gilt: Ein wenig Demut tut den Gelbhemden gut, sie macht die Badener sympathischer. Nach dem Sieg über Großwallstadt und der Eroberung der Tabellenspitze sprach Roggisch von einer „Momentaufnahme“. Und Petersson meinte, dass diese Platzierung so früh in der Saison überhaupt nichts zu bedeuten habe. „Die Fans nehmen unseren Kurs an“, sagt Gudmundsson: „Sie haben mit der Mannschaft gefeiert, obwohl wir gegen Wetzlar ,nur‘ mit zwei Toren gewonnen haben.“

Wird der angekündigte Talentkurs tatsächlich umgesetzt?

Ja. Aufgrund der Verletzung von Patrick Groetzki musste der 19-jährige Marius Steinhauser zwangsläufig in die Bresche springen. Er macht seine Sache gut, „weil ich das Vertrauen des Trainers spüre“, sagt der Rechtsaußen. Dass Gudmundsson auf die Jugend setzt, wurde auch beim Auswärtserfolg über Melsungen deutlich. Mitten in einer kritischen Phase nahm er Kapitän Uwe Gensheimer vom Feld und ersetzte ihn durch Kevin Bitz (19).

Welche Probleme bestehen trotz der Erfolgsserie?

Die Belastung wurde zuletzt auf wenigen Schultern verteilt, das kann auf die Dauer nicht gutgehen. „Ich werde die dreiwöchige Pause bis zum nächsten Spiel gegen den TBV Lemgo nutzen, um die Guardiola-Zwillinge und Matthias Gerlich in die Mannschaft einzubauen“, weiß auch Gudmundsson um das Problem: „Aber in der kurzen Saisonvorbereitung war einfach nicht mehr möglich.“ In Patrick Groetzki kehrt zudem eine Alternative zurück.

Was ist für die Löwen in dieser Saison möglich?

Angesprochen auf die Ziele, sagte Manager Storm vor dem ersten Spieltag: „Darüber können wir uns nach fünf Partien unterhalten.“ Die sind jetzt rum. Doch der Geschäftsführer mauert weiterhin: „Ich wollte damals Zeit gewinnen.“ Und das will er immer noch. Die ersten Eindrücke lassen jedoch den Schluss zu, dass die Qualifikation für die Champions League durchaus kein unrealistisches Unterfangen ist.

Von Marc Stevermüer