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Angst vor dem Absturz (MM)

Nach dem 24:24 beim TuS N-Lübbecke rüttelt Löwen-Spielmacher Andy Schmid seine Kollegen wach

LÜBBECKE. Gudmundur Gudmundsson flüchtete sich in Galgenhumor. „Es hätte schlimmer ausgehen können. Wir müssen nur zurückschauen“, erinnerte der Trainer der Rhein-Neckar Löwen nach dem 24:24-Remis in der Handball-Bundesliga beim TuS N-Lübbecke an jene denkwürdige Begegnung vom 19. November 2011, als seine Mannschaft in den letzten 56 Sekunden an gleicher Stelle ein 31:30 verspielte und 31:32 verlor. Doch sein Lächeln wirkte gequält, er war unzufrieden. Diesmal hatte sein Team bei einer 17:11-Führung mit dem Feuer gespielt – und einen Großbrand ausgelöst.

„Für einen Sieg waren wir nicht gut genug“, meinte der Isländer, stand auf und holte sich während der Pressekonferenz eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, nahm einen großen Schluck, verschränkte die Arme. War die Flasche nun halb voll oder halb leer? Mit Blick auf die Löwen und die Punkteteilung war sie halb leer, denn letztendlich hatten die Badener einen sicher geglaubten Sieg durch eigene Fehlleistungen verschenkt.

Kritik an Schiedsrichtern

Das räumte auch Gudmundsson ein, dennoch haderte er ebenso mit den Unparteiischen Nils Blümel und Jörg Loppaschewski, die gegen seine Mannschaft acht Strafzeiten verhängt hatten und Oliver Roggisch noch in der ersten Halbzeit die Rote Karte zeigten. „Diese Disqualifikation war eine Schlüsselszene. Nach der Pause stand unsere Abwehr nicht mehr so gut“, meinte der Isländer und ergänzte mit Blick auf das Zeitstrafen-Festival süffisant: „Wenn das die neue Regelauslegung ist, sollte man uns das mitteilen. Dann können wir uns darauf einstellen. In den vergangenen Jahren ist so zumindest nicht gepfiffen worden. Letztendlich werden Spiele maßgeblich durch Über- und Unterzahlsituationen entschieden.“

In der Tat war die eine oder andere Entscheidung der Unparteiischen diskussionswürdig und nicht verhältnismäßig – dennoch müssen sich die Löwen das Remis allein selbst zuschreiben.

„Wir haben 5:0 und 17:11 geführt, doch am Ende spielen wir glücklich 24:24. Das ist nicht unser Anspruch. Ich erwarte von uns, dass wir ein Spiel in Lübbecke gewinnen“, sagte Regisseur Andy Schmid. Zusammengekauert saß der Schweizer im Kabinengang und versuchte zu erklären, was irgendwie nicht zu erklären war: „Lübbecke war nicht besser als wir, sondern wir haben den Gegner zurück ins Spiel gebracht.“ Fast 40 Minuten lang kontrollierten die Badener die Partie. Der Tabellenführer spielte nicht überragend, aber er agierte im Stile einer abgezockten Spitzenmannschaft. Doch plötzlich ließen sich die Gelbhemden zuerst auf das biedere Handball-Handwerk des TuS herunterziehen, um dann das bescheidende Niveau der Ostwestfalen auch noch zu unterbieten. Wie schon bei der Pokal-Niederlage in Flensburg pendelten die Gelbhemden zwischen den Extremen, ließen sich auf einen Ritt auf der Rasierklinge ein – und wurden bestraft.

Vor wenigen Wochen sah das alles anders aus. Souveränität und Siegermentalität wurden den Löwen zugeschrieben. Doch 2013 zeigen sie diese Gier, diese Abgezocktheit nicht. In Lübbecke wurde ohne Not ein Angriff abgeschlossen, obwohl die eigene Unterzahl nur noch zwei Sekunden andauerte. Es wurde mit Risiko gepasst, obwohl die Löwen alles unter Kontrollen hatten. Und so wurde ein totenstilles Publikum inklusive eines am Boden liegenden Gegners zum Leben erweckt.

Formkurve zeigt nach unten

In Flensburg endete diese fehlende Konstanz nach starker erster Halbzeit mit dem Pokal-Aus, im EHF-Cup gelang mit Glück in letzter Sekunde ein 34:33-Sieg in Presov. Jetzt folgte das enttäuschende 24:24 in Lübbecke. Die Formkurve zeigt nach unten. „In diesem Jahr haben wir unser wahres Gesicht noch nicht gezeigt. In jedem Spiel gab es Höhen und Tiefen. In welche Richtung es geht, liegt ganz allein an uns. Entweder setzen wir den Höhenflug fort, oder es gibt einen kleinen Absturz. Diese Gefahr besteht“, sagte Schmid und nannte Gründe: „Vor uns liegen viele Spiele, unser Kader ist klein. Alexander Petersson und Kim Ekdahl du Rietz sind angeschlagen. Trotzdem sage ich: Wir haben alles selbst in der Hand. Wir müssen nur konstanter sein. Unser Ziel ist es, so lange wie möglich Tabellenführer zu bleiben.“

In der aktuellen Verfassung dürfte das allerdings nicht mehr lange der Fall sein. „Einige haben gut gespielt, andere nicht“, wollte Gudmundsson keine Einzelkritik üben. Ein feiner Zug, der einen klugen Trainer auszeichnet. Doch auch in Lübbecke wurde deutlich, dass der angeschlagene Ekdahl du Rietz nicht sein Potenzial abrufen kann und Patrick Groetzki durchhängt.

Keine Frage: Die Löwen wandeln auf einem schmalen Grat. Und aus Gudmundssons Galgenhumor könnte schon bald der pure Frust werden.

Von Marc Stevermüer