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„Da habe ich mir 20 Würfe pro Spiel genommen“

Neu-Löwe Mait Patrail über turbulente Zeiten, die Vorliebe für Basketball und seinen Wandel vom Shooter zum Allrounder

Neu-Löwe Mait Patrail am Ball.

Erst war da die große Ungewissheit, eine relativ lange Hängepartie – und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Was Mait Patrail in den vergangenen Wochen und Monaten erlebt hat, ist eigentlich so gar nicht nach dem Geschmack des Mannes, der es gerne ruhig, nachhaltig und planbar angeht. Doch manchmal kommt es anders im Leben und am Ende sogar besser, als man denkt.

Seit dem 1. Juli 2020 ist Mait Patrail Teil der Rhein-Neckar Löwen. Damit geht nicht weniger als ein Kindheitstraum in Erfüllung. „Es war immer mein Ziel, einmal bei einem Top-Verein in der Bundeslig zu spielen“, sagt der 2,01 Meter große Este. Anfang Juni unterschrieb er seinen Vertrag bei den Löwen, begab sich auf Wohnungssuche in der Region. Seine Frau war zu diesem Zeitpunkt hochschwanger. Am Samstag, zwei Tage vor dem Trainingsstart in der neuen sportlichen Heimat, kam das Kind. „Alles zusammen genommen war das schon ein bisschen stressig“, gesteht der frisch gebackene Familienvater, der nach der Einheit am Montag nur noch einen Wunsch hatte: „Schlafen.“

Verdient hat sich der Hüne mit dem markanten Vollbart die Ruhe allemal, schließlich traf er beim Fußballspiel zum Trainingsauftakt gleich doppelt. In den nächsten Tagen will er sich dann auch die Rhein-Neckar-Region ein bisschen näher anschauen. Untergekommen ist er in Rauenberg, wo die Löwen Andreas Palicka und Alexander Petersson heimisch sind und ihm das Einleben erleichtern werden. „Hier ist es schon ganz anders als in Hannover. Viel mehr Landschaft, Hügel. Ich war auch schon einmal kurz in den Weinbergen unterwegs“, erzählt der 31-Jährige, der äußerst aufgeschlossen und sympathisch daherkommt. Unumwunden gibt er zu, dass ihm Frau und Kind sehr fehlen. Beide befinden sich aktuell noch in ihrem alten Zuhause. „Anfang August kommen sie nach, dann sind wir wieder zusammen“, freut sich der stolze Papa auf die „Familien-Zusammenführung“.

„Ich habe mir erstmal einen Ventilator gekauft“

Mait Patrail mit Coach Schwalb und den anderen Neuzugängen.

Die Patrails sind Familienmenschen, verbringen viel Zeit zusammen, treffen sich gerne mit Freunden. Der erste Eindruck von der neuen Umgebung stimmt Mait optimistisch, dass man sich auch hier schnell heimisch fühlen wird. „Die Mannschaft hat mich super aufgenommen, der gesamte Verein hat mir von Anfang an viel geholfen, zum Beispiel bei der Wohnungssuche.“ Was ihm direkt aufgefallen ist, sind die anderen klimatischen Bedingungen. „Man hat ja immer viel gehört davon, dass es hier deutlich wärmer ist als im Norden. Jetzt, wo ich hier bin, kann ich sagen: Das stimmt. Ich habe mir erst einmal einen Ventilator gekauft.“

Schwitzen wird der Este in den kommenden Wochen vor allem im Training. Jetzt werden die Grundlagen gelegt für eine echte Mammutsaison mit unfassbar vielen Spielen. Zur Belastung mit den Löwen kommen für den Rückraum-Strategen die Termine mit der estnischen Nationalmannschaft. Ziel ist die Qualifikation für die EM 2022, in Gruppe 2 treffen Patrail und Kollegen unter anderem auf Deutschland. Bis zum ersten Quali-Termin im November wird er sich ausschließlich auf seinen neuen Klub konzentrieren können. Mit den Löwen zu trainieren, sich hohe Ziele zu setzen, daran zu arbeiten und im Oktober in die Bundesliga-Saison einzusteigen: Darauf freut er sich riesig. Und dafür will er alles geben.

Wer sich über die tadellose Arbeitsmoral des Herrn Patrail informieren möchte, muss nur in Hannover nachfragen. Dort hätte man den Rückraum-Schützen mit riesigem Erfahrungsschatz und seinen Allrounder-Fähigkeiten sicher gehalten, wäre nicht die Corona-Krise mit ihren teils drastischen finanziellen Folgen dazwischengekommen. Acht Jahre lang spielte Mait für die Recken und ist damit ein bedeutender Teil ihrer Erfolgsgeschichte. „Ich habe in all meinen Mannschaften immer gerne Verantwortung übernommen. Das kommt wohl daher, dass ich schon in ganz jungen Jahren diese Verantwortung tragen musste. Ich habe quasi alle Fehler schon einmal gemacht und kann die daraus resultierende Erfahrung schon seit vielen Jahren einbringen“, erklärt der 60-fache estnische Nationalspieler, der bereits im Alter von 17 Jahren in der höchsten Liga seines Geburtslandes spielte.

Vom Shooter zum Allrounder: „Da habe ich mir 20 Würfe pro Spiel genommen“

Mait Partrail beim ersten Einlaufen.

Mit 19 wurde er zum ersten Mal estnischer Meister, mit 20 zum zweiten Mal. Danach ging es nach Schaffhausen in die Schweiz, dort feierte er direkt die nächsten beiden Meisterschaften. 2011 ging es dann in die Bundesliga zum TBV Lemgo, 2012 weiter nach Hannover. Bis zu seiner ersten schweren Schulterverletzung 2014 war er ein klassischer Shooter. „Da habe ich mir oftmals 20 Würfe pro Spiel genommen“, erinnert sich der Torschützenkönig der Junioren-EM 2008. Nach der Verletzung musste er zwangsläufig sein Spiel umstellen und wurde zu dem spielstarken Allrounder, der nun den Rhein-Neckar Löwen mit seiner Übersicht und seinem Spielverständnis weiterhelfen will. „Seither schaue ich viel mehr nach dem Kreisläufer und wie ich meine Nebenleute einsetzen kann.“

Seine speziellen Bewegungsabläufe, seine Art, den Ball zu tippen und dabei das Feld zu sondieren, legen eine gewisse Inspiration aus dem Basketball nahe. Tatsächlich ist Mait Patrail Fan der US-Profiliga NBA. Sein Idol heißt Michael Jordan. Den Ehrgeiz hat er mit einem der größten Profisportler aller Zeiten gemeinsam. „Ich bin mir sicher, dass wir um die Meisterschaft mitspielen werden“, sagte der Mann, der offensiv halblinks und defensiv sowohl auf halb, als auch im Innenblock spielt, im Interview mit der Rhein-Neckar-Zeitung. Wer wollte ihm da widersprechen?