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Der Anführer und sein Blick aufs große Ganze (MM)

Mannheim. Dass er kein Handball-Ästhet, sondern ein Handball-Athlet ist – mit dieser Rolle hat sich Oliver Roggisch längst abgefunden. In seiner Brust schlägt ein Kämpferherz, er liebt das Duell Mann-gegen-Mann, das Ringen um jeden Zentimeter. Keine Frage: Roggischs Offensivqualitäten sind bescheiden, für das Spektakel sorgen die anderen. Das weiß der Modellathlet. „Ich bin überhaupt nicht böse darüber, dass ich fast nur in der Deckung spiele“, sagt der Weltmeister von 2007: „Ich habe mich auf meine Stärken besonnen und aus meinen Möglichkeiten das Maximale herausgeholt.“

Der Abwehrchef des Bundesliga-Tabellenführers Rhein-Neckar Löwen und der deutschen Nationalmannschaft genießt jedes Länderspiel. Eine WM-Absage oder ein Rücktritt aus der DHB-Auswahl wegen zu großer Belastung, wegen der hohen Verletzungsgefahr, wegen der fehlenden Regeneration – viele hätten den 34-Jährigen durchaus verstanden. Doch das Kraftpaket kann einfach nicht anders. „Es ist für mich eine Ehre, mein Land zu vertreten. Ich bin stolz auf jedes einzelne Länderspiel“, verdeutlicht Roggisch, wie sehr er der WM entgegenfiebert.

Zumal er erstmals in seiner langen Karriere als Kapitän der deutschen Mannschaft zu einem Turnier fährt. Es freut den 2,02-Meter-Mann, dass Bundestrainer Martin Heuberger ihn auserkoren hat. Gleichzeitig will er das Amt aber nicht überbewerten. „Es muss einen geben, der das Team aufs Feld führt. Allerdings kann bei uns jeder seine Meinung sagen. Das habe ich auch schon gemacht, als ich nicht Kapitän war. Insofern hat sich meine Rolle nicht verändert“, predigt der Defensivspezialist den Kollektivgedanken.

Er war dabei, als die DHB-Auswahl 2007 den WM-Titel holte, als es in Deutschland einen Handball-Hype gab, als die Fans in die Hallen strömten und die Sponsorensuche einfacher war. Doch seitdem bleiben die großen Erfolge aus – und die Zeiten im Handball-Geschäft sind schwieriger geworden. Roggisch hat es selbst erlebt, als die Löwen ihren Mäzen Jesper Nielsen verloren. Für die nächste Saison hat er zudem kein Arbeitspapier in der Tasche.

„Ein Angebot der Löwen liegt in der Luft, aber kein unterschriftsreifer Vertrag. Noch liegen unsere Vorstellungen etwas auseinander“, sagt Roggischs Berater Jochen Bergener. Möglicherweise muss der Blondschopf die Badener am Saisonende verlassen, denn wie diese Zeitung bereits berichtete, haben die Gelbhemden ein Auge auf den Berliner Evgeni Pevnov geworfen. Und gestern wurde bekannt, dass der Ex-Friesenheimer nach dieser Saison den Hauptstadt-Klub auf jeden Fall verlassen wird.

„Wir sind alle gefordert“

Roggisch befasst sich damit zurzeit nicht, er will sich voll und ganz auf das Turnier konzentrieren – und das aus gutem Grund. „Diese Weltmeisterschaft ist extrem wichtig für den deutschen Handball. In der Bundesliga gehen die Zuschauerzahlen zurück und die Sponsoren überlegen sich, ob sich Investitionen in den Handball lohnen“, blickt der Routinier über den Tellerrand hinaus: „Da würde es den Vereinen gut tun, wenn die Nationalmannschaft erfolgreich ist. Das würde allen Rückenwind geben und die Aufmerksamkeit wieder vermehrt auf den Handball lenken. Wir sind uns dieser Aufgabe in Spanien bewusst und wollen, dass unser Sport wieder mehr an Stellenwert gewinnt. Nach 2007 ging es bergab, jetzt sind wir alle gefordert.“

Und wenn die Kämpfernatur von „allen“ redet, dann meint er auch alle. Wie soll es auch anders gehen als über das Kollektiv? Die großen Ausnahmekönner fehlen der DHB-Auswahl. „Wir müssen dieses Defizit als Mannschaft kompensieren. Frankreich, Spanien, Kroatien und Dänemark haben überragende Einzelspieler. Das kann ein Vor-, aber auch mal ein Nachteil sein, weil viel an Einzelnen hängt.“

Nach Platz sieben bei der EM 2012 wähnt Roggisch die deutsche Auswahl auf einem guten Weg. „Jetzt müssen wir den nächsten Schritt machen. Aber man darf uns auch nicht ins Halbfinale reden. So weit sind wir noch nicht“, übt sich der Blondschopf in Zurückhaltung. Diese wird er auf dem Feld am Samstag im Auftaktspiel gegen Brasilien allerdings abgelegt haben. Garantiert.