Veröffentlichung:

Historische Löwen, Teil 4: Matze Rohr und das wilde Auf & Ab der Anfangsjahre

Geschichte(n) aus einer kaum noch denkbaren Zeit: Mit Dobermännern in der Dusche und Schnapsflaschen in der Krisensitzung

Historische Löwen, Teil 4: Matze Rohr und das wilde Auf & Ab der Anfangsjahre. Geschichte(n) aus einer kaum noch denkbaren Zeit.
Matze Rohr (rechts) mit Uli Schuppler (l.) und Maros Kolpak.

Historische Löwen, Teil 4: In dieser Serie, deren Teile in unregelmäßigen Abständen auf der Website der Rhein-Neckar Löwen erscheinen, wollen wir tief in die Geschichte des Klubs eintauchen – und das auf eine besondere Weise. Wir greifen uns nicht die Personen heraus, die ohnehin im Fokus der Öffentlichkeit standen und stehen, sondern solche, die sich eher unter dem Radar bewegten und trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung vom Dorfverein zum Spitzenklub geleistet haben. Es geht also genauso um historische Meilensteine wie um Randgeschichten, um Populäres und Abseitiges, und letzten Endes um die Verbindung von Ereignissen und Personen, die mit dazu geführt haben, die Löwen zu dem zu machen, was sie heute sind.

In der vierten Ausgabe der „Historischen Löwen“, die nach größerem Abstand zu Folge 3 mit Goran Stojanovic erscheint, nehmen wir Matthias, genannt Matze Rohr unter die Lupe. Der Rückraum-Linke spielte von 1997 bis 2004 bei den Löwen bzw. bei dessen Vorgänger-Vereinen und -Spielgemeinschaften. Der heute 43-Jährige war damit mittendrin, als die Löwen, wie wir sie heute kennen, aus der Taufe gehoben wurden.

Es ist der 26. April 2003. In der Erzgebirgshalle im thüringischen Lößnitz, einer 8000-Seelen-Gemeinde inmitten begrünter Hügel und Wälder, steht die SG Kronau/Östringen vor dem ganz großen Triumph. Ein Sieg trennt die „Kröstis“ vom Aufstieg in die Handball-Bundesliga. Nur noch ein Sieg. Gegner und Gastgeber in der Erzgebirgshalle ist der EHV Aue – und er hat an diesem Tag nicht den Hauch einer Chance. Nach 60 Minuten steht es 31:19, haben sich die hochmotivierten Gelbhemden keine Blöße gegeben und den bis dahin größten Erfolg der Vereinsgeschichte unter Dach und Fach gebracht. Mittendrin: Matthias Rohr, genannt Matze. Ziemlich genau 20 Jahre später hat der „Ur-Krösti“ noch sehr genau vor Augen, was sich damals abgespielt hat im sonst so beschaulichen Lößnitz.

„Ich kann mich noch sehr gut erinnern, vor allem an die Feierlichkeiten direkt vor Ort“, hebt Matthias Rohr an, um dann eine der vielleicht skurrilsten Anekdoten aus dem an Anekdoten reichen Löwen-Fundus zu kramen: „Die Kabinenfeier war absolut legendär. Und zwar wirklich legendär! Irgendwann, das weiß ich noch ganz genau, stand plötzlich ein Dobermann in unserer Dusche. Den hatte jemand von einem Auer Fan bekommen. Kalle Just, der Vorsitzende der TSG Kronau, haben wir den Schnurrbart abrasiert. Aber danach, als wir wieder zuhause in Kronau waren, kam das Beste.“ Um 2 Uhr nachts hatten Spieler, Trainer und Betreuer der SG Kronau/Östringen die knapp 430 Kilometer von Lößnitz bis nach Hause zurückgelegt. Begrüßt wurden sie mitten in der Nacht von rund 2000 Krösti-Fans. „Das war der blanke Wahnsinn. 2000 Leute, dazu ein Bierwagen. Wir sind aus dem Bus direkt in die Arme der Menschen gefallen, die Party ging sofort los. Bis in die Morgenstunden haben da zusammen gefeiert“, beschreibt Matze Rohr die bis dahin größte Handball-Party der Löwen-Geschichte. 

Historische Löwen, Teil 4: Nach der Party folgt der Kater

Historische Löwen, Teil 4: Matze Rohr und das wilde Auf & Ab der Anfangsjahre. Geschichte(n) aus einer kaum noch denkbaren Zeit.
Die Aufstiegsparty beginnt direkt in der Halle.

Wie nach jeder guten Party ließ auch in diesem Falle der Kater nicht auf sich warten. So groß die Euphorie durch den Aufstieg war, so ernüchternd verlief die erste Bundesliga-Saison. Der ausschlaggebende Faktor für den direkten Abstieg aus Rohrs Sicht: der verlorengegangene Teamgeist. „Solange es gut läuft, ist es leicht, eine Einheit zu sein. Läuft es schlecht, ist dann auch schnell Schluss damit“, fasst er kurz und bündig zusammen. Doch nicht nur die – durchaus erwartbaren – Niederlagen in der höchsten deutschen Handball-Klasse bremsten den Rückenwind des Aufsteigers rasch aus. Aus Rohrs Perspektive hatte man sich bereits vor der Saison in einigen Personalentscheidungen vertan – und mit Christian Zeitz, der zum THW Kiel gewechselt war, einen der absoluten Führungsspieler verloren. Und nicht nur das: „Zeitzi war wie ich einer der Spieler, die die Truppe zusammengehalten haben. Ich von Kronauer Seite aus, er von der Östringer Seite. Wir haben beide großen Wert auf die Integration gelegt.“

Auch persönlich lief es für Matze Rohr im ersten Bundesliga-Jahr überhaupt nicht gut. Der ehemalige Stamm- und Führungsspieler fand sich auf der Bank wieder, haderte mit der für ihn ungewohnten Rolle. Sein Selbstverständnis war, dass er in der Mannschaft auf dem Feld wie außerhalb vorangehen sollte. Als ihm dies genommen wurde, entschied er sich ziemlich schnell für einen Wechsel. Und wo verschlug es ihn hin? Zur SG Wallau-Massenheim, wo ein gewisser Martin Schwalb das Zepter führte und dem unzufriedenen Matze Rohr eine echte Perspektive bot. „Da habe ich dann plötzlich wieder gespielt, auch mal meine sechs, sieben Buden gemacht, und das, obwohl der Konkurrenzkampf und auch der Erfolgsdruck größer waren.“ Nach dem erfolgreichen Jahr in Hessen ging es wieder südwärts, heuerte der Rückraumspieler bei Zweitligist Ludwigsburg-Oßweil an. Auf dieser Station lag jedoch so gar kein Segen. Eine schwere Knieverletzung sorgte dafür, dass der damals 25-Jährige die beiden Jahre in der Kreisstadt fast komplett im Krankenstand verbrachte.

2007 folgte der Schritt zurück in die Heimat. Beim damaligen Zweitligisten SG Oftersheim-Schwetzingen wollte Matze Rohr noch einmal angreifen. Parallel ergaben sich verlockende berufliche Möglichkeiten. KMPG, ein gigantisches Unternehmensberatungs-Netzwerk, das im Jahr 2023 weltweit 236.000 Menschen beschäftigt, unterbreitete dem jungen Mann ein Job-Angebot. Eines, das er nicht zuletzt mit Blick auf die eigene Verletzungshistorie kaum ausschlagen konnte. „Ich habe mit meinen Eltern gesprochen, die mich schon immer gut beraten hatten. Sie waren der Meinung, dass ich langsam an meine berufliche Zukunft denken und dort den Schwerpunkt legen sollte.“ Fulltime-Job und Handball-Profi – dies würde sich nicht unter einen Hut bringen lassen. Das musste sich Matze Rohr eingestehen. Und so entschied er sich für den Karriere-Einstieg als Steuerberater – und gegen ambitioniertes Handball-Spielen. Was nicht hieß, gänzlich mit der Leidenschaft für das Spiel zu brechen.

Ein Moment, der alles verändert

Historische Löwen, Teil 4: Matze Rohr und das wilde Auf & Ab der Anfangsjahre. Geschichte(n) aus einer kaum noch denkbaren Zeit.
Mann mit der Nummer sechs: Matze Rohr.

Holger Löhr, mit dem Matze zwei Jahre lang bei den Kröstis zusammengespielt hatte, lotste den alten Kameraden zur SG Leutershausen. Hier, in der fünften Liga, konnte er Beruf und Sport wieder miteinander vereinbaren, bekam von seinem Coach alle Freiheiten, die er brauchte. Bis es zu jenem schicksalhaften Moment kam, den Matthias Rohr als eine „1 in 1 Million“-Situation beschreibt. Er prallte derart unglücklich mit einem Gegenspieler zusammen, dass er nur mit einer riesigen Portion Glück einer Querschnittslähmung entging. Man kann es auch als Wunder bezeichnen, dass Matthias Rohr heute keinerlei sichtbare Schäden davongetragen hat. „Es sind Langzeitfolgen geblieben, die das Nervensystem betreffen.“ Damit aber, sagt er, könne er leben.

Die Leidenschaft für den Handball hat er bis heute nicht eingebüßt. Nicht nur, dass er immer mal wieder bei Heimspielen der Löwen vorbeischaut. Er gibt Fördertraining für junge Handball-Talente, sein Sohn Jasper spielt selbst Handball. Die klare Priorität liegt aber auf dem Job – und der hat es durchaus in sich. Über 150 Mitarbeitende betreut er in der Kanzlei Moore Treuhand Kurpfalz, in der er als Managing Partner mit an der Unternehmensspitze steht, und wohin es ihn nach der KPMG-Phase verschlug. Auch hier ist der Handball-Bezug geblieben, erweist sich als hilfreich. Zu den Klienten gehören nicht wenige Handballer, darunter die Löwen-Legenden Uwe Gensheimer und Andy Schmid. Im Berufsalltag greift Matthias Rohr immer wieder auf die Erfahrungen aus seiner Handball-Zeit zurück: „Wie im Handball auch, geht es bei uns darum, ein Team zusammenzuschweißen, hinter Zielen zu versammeln, Beziehungen innerhalb der Gruppe auszubalancieren.“

Nicht nur über seinen Job ist der Kontakt zu ehemaligen Mannschaftskollegen geblieben. Matthias Rohr lässt sich, sofern dies die Zeit erlaubt, in der SAP Arena blicken. „Auch wenn ich bei vielen anderen Clubs gespielt habe: Die Löwen sind mein Verein“, sagt er im Brustton der Überzeugung. Und auch hierzu gibt es, wie immer bei Handballern, eine wunderschöne Anekdote. 2016 war er mit Andre Bechtold – über den es ebenfalls eine Historische-Löwen-Ausgabe gibt – bei der Meisterfeier. „Erst wussten wir gar nicht so recht, wie wir Anschluss finden sollten, denn mit den Jungs, die da auf der Platte gestanden sind, hatten wir bis auf einige Ausnahmen wie Uwe Gensheimer kaum etwas zu tun. Dann kam aber Oli Roggisch auf uns zu, nahm uns in den Arm und sagte: ,Wisst ihr was? Ohne euch wären wir nicht hier!‘ Da wurde mir schlagartig bewusst: Das stimmt ja! Wir sind ein Teil des Ganzen – und die Löwen sind ein Teil von uns. Das war für mich ein ganz besonderer Moment.“

Historische Löwen, Teil 4: Das Erfolgsgeheimnis der Kröstis

Christian Zeitz schreibt Autogramme.
Christian Zeitz war sportlich wie als Fan-Magnet ein Faktor.

Es ist dieser Zusammenhalt, der alle erfolgreichen Löwen-Teams auszeichnet – von der Aufstiegstruppe um Matze Rohr über die Meister-Mannschaft von 2016 bis hin zu den Pokalsiegern von 2023. Eines ist dabei klar: Von allein entsteht so ein Zusammenhalt nicht. Und da kommen wir wieder zurück zu Matze Rohr, Christian Zeitz und den Aufstiegshelden von 2002. Nach der Fusion von TSG Kronau und TSV Baden Östringen galt es, nicht nur zwei Vereine, sondern vor allem zwei Mannschaften unter einen Hut zu bekommen. „Plötzlich war niemand mehr die unangefochtene Nummer eins auf seiner Position, sondern musste sich mit einem ähnlich starken Kameraden messen“, erinnert sich Matthias Rohr. Sein Positionskollege war kein Geringerer als Uli Schuppler, ehemaliger Nationalspieler, Östringer Vereins-Legende und mit der Erfahrung von 23 Jahren Handball auf dem Buckel. Rohr hingegen war einer der jungen wilden Kronauer, hatte die Zeit auf seiner Seite sowie den Leistungsnachweis von rund 200 Toren in einer Saison und war fester Bestandteil der Junioren-Nationalmannschaft.

„Wir haben es geschafft, aus diesen ganz unterschiedlichen Typen eine starke Einheit zu formen. Letztlich hat sich jeder dem Ziel untergeordnet, in die Erste Liga aufzusteigen. Das war das eigentliche Geheimnis.“ Die Grundlage hierfür legten die frisch zusammengewürfelten Kronauer und Östringer in einem Trainingslager. „Veranstaltet haben wir das Ganze in Großaspach. Ich habe dann spontan ein Quiz organisiert, bei dem jeder etwas über seinen Positionskollegen herausfinden musste. Dann gab es noch Karaoke und diverse Trinkspiele. Das hat die Stimmung ganz gut aufgelockert. Am Ende haben wir uns alle in den Armen gelegen und der Teamgeist, mit dem wir den Aufstieg geschafft haben, war geboren.“ Von diesem feuchtfröhlichen Abend an versammelten sich die Jungs unter dem Trainer-Duo Michael Roth / Rolf Bechtold hinter dem gemeinsamen Traum von der Handball-Bundesliga. Letztlich war dies einer der Initiations-Momente des langjährigen Löwen-Mottos „1 Team, 1 Ziel“ – und ganz sicher einer der Meilensteine in der Vereinshistorie.

Vielleicht kein Meilenstein, dafür aber eine umso lustigere Geschichte erinnert Matze Rohr von seinem Kollegen Maros Kolpak, mit dem die Serie „Historische Löwen“ übrigens ihren Anfang nahm. Es war in der Bundesliga-Saison nach dem Aufstieg, die Kröstis hingen im Tabellenkeller fest. Trainer Michael Roth beraumte eine Krisensitzung ein. In ernstem Ton referierte er die Lage. Finstre Mienen allenthalben, die Köpfe hingen, Durchhalteparolen wurden bemüht. Als Roth seine Ansprache beendet hatte, griff Torwart Kolpak in seinen Rucksack, zog zwei Flaschen heraus und erklärte in seiner typisch trockenen Art: „So Männer, ich denke, wir sollten jetzt trinken Schnaps.“ Am Ende reichte es zwar nicht für die Wende im Abstiegskampf – aber die Mannschaft hatte zumindest ihren ursprünglichen Spirit wiedergefunden und verkaufte ihre Haut so teuer wie möglich.

Die (Löwen-)Geschichte von Matze Rohr: Schwere Verletzung als Initialzündung

Mannschaftsbild der SG Kronau/Östringen aus der Saison 2002/03.
Die Aufstiegshelden auf einen Blick.

Denkt Matthias Rohr an all dies zurück, spürt er die tiefe Verbundenheit zu Kronau, Östringen, zu den Rhein-Neckar Löwen, und zwar bis heute. Die Anfänge des gebürtigen Heidelbergers wiederum, der seit 20 Jahren in Wiesloch lebt, liegen in Reilingen. Von hier aus nahm der sportliche Werdegang Fahrt auf, und zwar, wie sollte es auch anders sein bei Matze Rohr, mit einer Verletzung. „Ich war damals in der Jugend schon sehr ambitioniert, habe regelmäßig in der Auswahl unter Lutz Landgraf trainiert und gespielt. Dann habe ich mir bei einer dummen Bewegung den Schienbeinkopf gebrochen. Sieben Monate war ich raus.“ Diese Erfahrung, dieser Kampf gegen die Schmerzen, den inneren Schweinehund, und das in so jungen Jahren: Das sollte Matzes Einstellung zum Sport, ja zum ganzen Leben, entscheidend prägen. „Als ich das geschafft hatte, wollte ich einfach aufs Ganze gehen, und machte den nächsten Schritt nach Kronau, wo zu seiner Zeit auch Lutz Landgraf gerade angefangen hatte zu arbeiten.“

Gemeinsam mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten wie Andre Bechtold und Jens Ostheimer, die Matze wie Co-Coach Landgraf aus den Auswahlmannschaften kannte, gab der junge Mann jetzt unter Trainer Rolf Bechtold richtig Gas. „In einer Saison, da müssen wir 18, 19 gewesen sein, haben wir eine Stunde Kraft trainiert, danach ein komplettes A-Jugend-Training mitgemacht und, zur Krönung, noch eine vollständige Einheit bei der ersten Mannschaft absolviert.“ Arbeit, die sich auszahlte, und die wenige Jahre später gipfelte in jenem 26. April 2003, dem Aufstiegstag der SG Kronau/Östringen und der Geburtsstunde dessen, was schließlich zu den Rhein-Neckar Löwen wurde, dem zweifachen Deutschen Meister und Pokalsieger. Die Erfolge der vergangenen Jahre, wie Oli Roggisch so klug bemerkte 2016, ruhen auf den Schultern von Männern wie Andre Bechtold, Uli Schuppler, Christian Zeitz und Matthias Rohr.