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Historische Löwen / Löwen-Historie, Teil 2: André Bechtold und die jungen Kronauer Handball-Rebellen

Serie legt Fokus auf Meilensteine der Vereinsgeschichte, erzählt aus der Perspektive beteiligter, aber nicht ganz so berühmter Löwen

André Bechtold in der SAP Arena.

Historische Löwen / Löwen-Historie: In dieser Serie, deren Teile in unregelmäßigen Abständen auf der Website der Rhein-Neckar Löwen erscheinen werden, wollen wir tief in die Geschichte des Klubs eintauchen – und das auf eine besondere Weise. Wir greifen uns nicht die Personen heraus, die ohnehin im Fokus der Öffentlichkeit standen und stehen, sondern solche, die sich eher unter dem Radar bewegten und trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – einen ganz wichtigen Beitrag zur Entwicklung vom Dorfverein zum Spitzenklub geleistet haben. Es geht also genauso um historische Meilensteine wie um Randgeschichten, um Populäres und Abseitiges und letzten Endes um die Verbindung von Ereignissen und Personen, die mit dazu geführt haben, die Löwen zu dem zu machen, was sie heute sind.

In der zweiten Ausgabe der „Historischen Löwen“ begeben wir uns auf die Spuren von André Bechtold. Der gebürtige Heidelberger spielte seit der D-Jugend für die TSG Kronau und stand unter anderem bei der Bundesliga-Premiere der SG Kronau/Östringen auf dem Feld. Nach seinem Abschied 2007 kehrte er 2009 zu den Rhein-Neckar Löwen zurück, seit 2015 ist er im Trainerteam der Zweiten Mannschaft aktiv.

Die Initialzündung: Eine sensationelle Meisterschaft und ein legendäres Turnier mit Hens, Bitter und Co.

Angefangen, richtig groß zu werden, hat es Mitte der 1990er Jahre. „Wir hatten damals in der C-Jugend einen außergewöhnlich starken Jahrgang. Als dann noch ein paar Jungs aus anderen Vereinen dazugekommen sind, hatten wir eine Top-Mannschaft beisammen. 1996 sind wir mit dieser Truppe deutscher B-Jugend-Meister geworden – als Dorfklub! Das wurde dann natürlich auch gebührend gefeiert“, sagt André Bechtold, in der Erinnerung kramend. Er selbst war einer der Protagonisten jener Zeit, in der sich die TSG Kronau national einen Namen machte als Handball-Klub mit exzellenter Nachwuchsarbeit.

Ein paar Jahre später standen einige dieser Jungs auf dem Feld, als die SG Kronau/Östringen den Sprung in die Handball-Bundesliga schaffte. Zusammen mit den überwiegend erfahrenen Vertretern des TSV Baden Östringen bildeten die Kronauer „jungen Wilden“ den ersten Bundesliga-Kader der Löwen-Geschichte. Es war eine aufregende Zeit, nicht zuletzt für einen wie André Bechtold, der nicht nur im nördlichen Baden handballerisch auf sich aufmerksam machte. Im Sommer 2001, als der damals 21-Jährige mit Kronau noch in der Zweiten Liga spielte, nahm er an der Junioren-WM in der Schweiz teil. Mit im Kader standen unter anderem die späteren Weltmeister von 2007 Pascal Hens, Jogi Bitter, Carsten Lichtlein und Dominik Klein.

Dass in diesem angehenden Star-Ensemble mit André Bechtold ein Kronauer Junge auf der Mitte spielte und die Hoch-Talentierten um ihn herum dirigieren durfte – bis heute ist dies einer der Höhepunkte geblieben im Handballer-Leben des gebürtigen Heidelbergers. Dabei lief es sportlich nicht gerade wie geplant. Als einer der Turnier-Favoriten gestartet, stand der deutsche Nachwuchs nach zwei Niederlagen zum Auftakt vor dem Aus. „In diesem Moment sind wir kurzerhand aus dem Teamhotel ausgebrochen, zusammen einen trinken gegangen – und haben danach kein Spiel mehr verloren“, erinnert sich André Bechtold. Um ein Haar hätten die Jungs sogar noch das Halbfinale erreicht, mussten sich letztlich aber mit Platz fünf begnügen. Den Titel sicherte sich Russland durch ein 31:27 im Finale gegen Spanien.

André Bechtold bei der Junioren-Nationalmannschaft.

Zurück in Kronau ging der Mittelmann mit der TSG Kronau in deren letzte Zweitliga-Saison. Nach der Spielzeit 2001/2002 wurde die Fusion mit dem TSV Baden Östringen am 1. Juli 2002 offiziell. Von nun an war das Ziel klar: Mit neuem Schwung und vereinten Kräften sollte es in die höchste deutsche Spielklasse gehen. Es war eine spannende, eine aufwühlende Zeit, die André Bechtold auch 18 Jahre später noch sehr genau vor Augen hat: „Zunächst einmal war damals das Duell mit Östringen für uns die Mutter aller Derbies. Da war immer extrem was los. Wir haben uns auf dem Feld bekämpft, ja fast bekriegt. Da herrschte eine regelrechte Feindschaft – und danach ist man zusammen einen trinken gegangen.“

Harte Konkurrenz, Bierchen und eine lehrreiche Premieren-Saison

Im Sommer 2002 wurden aus den „Gelegenheitsfeinden“ Teamkollegen. Ein Prozess, der nicht ganz so reibungslos über die Bühne ging. „Bei Östringen standen überwiegend gestandene Bundesliga-Spieler im Kader, bei Kronau eher die jungen Rebellen. Natürlich kam es da zu Positionskämpfen im Training. Das hat sicher auch zu unserem Erfolg beigetragen, dass da immer ein gewisser Wettkampf herrschte und wir uns gegenseitig gepusht haben in den Einheiten“, sagt André Bechtold und erinnert sich an rustikale Szenen: „Da war richtig was los, da gab es regelmäßig blutige Nasen. Hinterher gab es ein Bierchen zur Versöhnung. Ich muss schon sagen: Gerade für einen jungen Spieler wie mich war das eine intensive Zeit und eine extrem gute Schule für die Zukunft.“

Den nächsten persönlichen Karriere-Schritt wird der heute 40-Jährige genauso wenig vergessen: das erste Bundesliga-Spiel. Am 29. August 2003 ging es für die SG Kronau/Östringen bei ihrem Debüt auf der großen Handball-Bühne Bundesliga zur HSG Wetzlar. Trainer der HSG damals: Velimir Petkovic. Trainer der SG damals: Rolf Bechtold, Andrés Vater. Nach den ersten 60 Minuten in der HBL steht es aus Sicht der „Kröstis“ 26:37. Statt Euphorie ist erst einmal Tristesse angesagt. „Das war schon noch einmal ein anderes Niveau als in der Zweiten Liga. Vor allem körperlich. Das Tempo war für uns kein Problem, wir haben damals auch sehr schnell gespielt. Den Unterschied hat die Kraft gemacht.“ Kaum verwunderlich, dass sich diese ersten 60 Bundesliga-Minuten tief eingegraben haben in das Gedächtnis von André Bechtold: „Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Halle und einzelne Aktionen. Auch wenn wir hoch verloren haben und ordentlich Lehrgeld bezahlen mussten: Das war schon ein besonderes Erlebnis.“

Für den Spielmacher persönlich verlief das erste Bundesliga-Jahr recht positiv. Zwar galt Steffen Weber als A-Nationalspieler und erfahrener Bundesliga-Profi als gesetzt auf der zentralen Position im Rückraum. Doch der junge André, damals 23, fand seine Rolle. In der Abwehr war er auf der Halbposition gesetzt, hin und wieder half er auch als Linksaußen aus. Um sich auf der Mittelposition nachhaltig durchzuboxen, fehlte es letztlich vor allem am Körperlichen: „Da waren mir mit meinen 1,85 Metern natürliche Grenzen gesetzt, vor allem gegen eine kompakte 6:0-Abwehr, wie sie damals am häufigsten gespielt wurde. Ich habe versucht, das mit Schnelligkeit und Übersicht zu kompensieren, was mir auch ganz gut gelungen ist. Dabei habe ich schon früh erkannt: Ich kann ein guter Bundesliga-Spieler werden. Zum absoluten Top-Niveau wird es aber eher nicht reichen.“

André Bechtold mit Michel Abt.

So erfrischend ehrlich sich André Bechtold selbst einschätzt, so erfrischend anders war seine Spielweise auf dem Feld. Die Mitspieler einsetzen, vorausdenken, was passieren und wie man die Jungs um sich herum in die beste Position bringen könnte: Das war die große Stärke des recht kleinen Spielgestalters im Trikot der SG Kronau/Östringen. „Ich habe mir viele Gedanken gemacht über den Handball, habe viel Video geschaut und war schon in jungen Jahren auf der analytisch-strategischen Seite unterwegs“, erklärt André Bechtold. In seinen Spielstil floss aber auch schon immer die physische Komponente ein: „Ich war schon auch ein Wühler, bin viel ins Eins-gegen-eins, habe auch viel im Körperlichen trainiert.“

So aufregend und neu das erste Bundesliga-Jahr auch war – am Ende stand eine riesige Enttäuschung. Wegen eines Tores verloren Bechtolds Kröstis das Relegations-Duell mit Schwerin, mussten direkt wieder runter in Liga zwei: „Das war ein harter Schlag für uns, da hatten wir alle lang dran zu knabbern. Zumal die Relegation selbst schon vermeidbar gewesen wäre. In vielen Spielen hatten wir bis zur Schlussviertelstunde gut im Rennen gelegen und dann unglücklich verloren. Das war schon alles sehr frustrierend.“ Was den Kronau/Östringern dabei nicht gerade zugutekam, war die Ausgangslage samt jüngerer Geschichte: „Bis zu diesem Bundesliga-Jahr war es bei uns immer nur nach oben gegangen. Die ersten hohen Niederlagen waren einschneidende Erlebnisse. Da hat man plötzlich gemerkt, wie es ist, unter Druck zu geraten. Da spielt man dann nicht gerade besser.“

Gerade er selbst, als Vertreter der jungen, unbeschwerten Kronauer Handball-Jugend, bekam diesen Druck besonders zu spüren, erinnert sich André Bechtold: „Da überlegst du zweimal, ob du dir den Wurf jetzt nimmst oder lieber nicht. Das sind dann schon Extremsituationen für einen jungen Kerl.“ Nach dem Abstieg ging es zunächst nicht gerade erfolgreich weiter. Unter dem neuen Trainer Frédéric Volle lief es weder für André, noch für die gesamte Mannschaft. Erst mit der Rückkehr von Rolf Bechtold auf den Trainerstuhl nahm das Ziel des direkten Wiederaufstiegs konkrete Formen an. Im Sommer 2005 war es vollbracht: Die SG Kronau/Östringen stieß zum zweiten Mal in den erlauchten Kreis der besten Handball-Mannschaften Deutschlands vor. „Mit dem Trainerwechsel ist ein Ruck durchs Team gegangen“, sagt André Bechtold.

Dass es danach für die Kröstis, die zwei Jahre später offiziell zu den Rhein-Neckar Löwen wurden, kontinuierlich bergauf ging, war für den leidenschaftlichen Handballer nur folgerichtig. „Das Kapitel mit Aufstieg, Abstieg und Wiederaufstieg steht stellvertretend für die Entwicklung dieses Klubs“, sagt André Bechtold und erklärt: „Wir haben immer daran gearbeitet, uns weiterzuentwickeln, und damit Stück für Stück unsere Grenzen nach oben zu erweitern. Wenn man ständig an der Schwelle seiner Leistungsstärke agiert, gibt es auch Rückschläge, das ist ja ganz normal. Erst, als wir 2005 dann auch im Kader den nächsten Schritt gemacht haben, hat sich das geändert.“ Als die SG in jenem Sommer vor 15 Jahren die Mannschaft auf ein neues Niveau hob, mit Juri Schewzow außerdem einen überragenden Trainer verpflichtete, spürte wiederum André Bechtold seine Grenzen: „Da wurde es dann dünner für mich, das war schon eine drastische Konkurrenzsituation.“

Löwen-Kader steigt auf neues Niveau, Andrés Abschied und Rückkehr

Andrés Vater Rolf Bechtold und Michael Roth.

Bei den Kröstis spielten damals Slawomir Szmal, Oleg Velyky, Mariusz Jurasik, Dimitri Torgowanow, dazu der noch nicht einmal 20-jährige Uwe Gensheimer. André Bechtold rückte mehr und mehr aus dem Fokus. 2007 wechselte er nach Stuttgart zum SV Salamander, der drei Monate später Insolvenz anmeldete, spielte dann Zweite Liga in Schwetzingen. 2009 kehrte er in die Zweite Mannschaft der Löwen zurück, wo er bis 2012 in der Dritten Liga aktiv war und anschließend als A-Jugend-Coach auf die Trainerschiene wechselte. 2015/16 übernahm er, zunächst mit Klaus Gärtner, den Trainerposten der Zweiten Mannschaft. Hier arbeitet er mittlerweile „Chefcoach“ Michel Abt zu, denn parallel zum Handball hat sich bei André Bechtold einiges verschoben in Sachen Prioritäten.

Anstelle des Handballs ist die berufliche Laufbahn in den Vordergrund getreten. Bei Löwen-Partner SAP hat André Bechtold Karriere gemacht, ist vom Ferienjobber zum Teamleiter geworden und arbeitet direkt dem Vorstand zu. Dass da nebenher wenig Zeit für alles andere bleibt, ist offensichtlich. Zumal der 40-Jährige auch glücklicher Familienvater ist und in seiner Wahlheimat Walldorf ein glückliches Leben mit Frau und zwei Kindern führt. „So oder so bin ich dem Handball natürlich weiter verbunden und damit in erster Linie den Rhein-Neckar Löwen. Das ist mein Heimatverein, da hängt mein Herz dran.“

Als Co-Trainer der Zweiten Mannschaft schließt sich für André Bechtold ein Kreis. Als Teil der B-Jugend-Meistermannschaft war er lange Zeit Aushängeschild für die vorzügliche Jugendarbeit der TSG Kronau. Heute betreut er die neuen Talente aus der Löwen-Schmiede und führt sie an den Profi-Handball heran. Damals wie gegenwärtig ist es diese Herausforderung, den nächsten Entwicklungsschritt zu machen, die André Bechtold antreibt. Und die ihn im Kern mit den Rhein-Neckar Löwen als Klub verbindet. Denn auch die Löwen haben vor allem ein Ziel: niemals stehenbleiben, immer weitergehen. Gerne auch in unbekannte Welten. So wie damals André Bechtold vor seinem allerersten Spiel in der Bundesliga, das auch das allererste Löwen-Spiel in der Bundesliga war.  

André Bechtold:

  • geboren am 23. Mai 1980 in Heidelberg
  • begann in der D-Jugend der TSG Kronau mit Vereinshandball
  • spielte außerdem noch in Stuttgart und Schwetzingen
  • lief für die TSG Kronau und die SG Kronau/Östringen in der 1. und 2. Handball-Bundesliga auf
  • kehrte nach Abschied 2007 in 2009 zu den Löwen zurück und ist dort bis heute als Trainer tätig

Die wichtigsten Eckdaten zu Bechtolds Zeit bei den Löwen:

  • 1992 bis 2002 TSG Kronau (Jugend und 2. Bundesliga)
  • 2002 bis 2007 SG Kronau/Östringen (1. und 2. Bundesliga)
  • 2009 bis heute Rhein-Neckar Löwen (A-Jugend, Zweite Mannschaft in der 3. Liga)

Hier geht es zum ersten Teil mit Maros Kolpak.