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Jubel oder Jammer – es geht um alles

Montpellier. Als Wunder wird ein Ereignis bezeichnet, dessen Zustandekommen man sich nicht erklären kann. Es muss also etwas Unvorhergesehenes, etwas Erstaunliches passieren. Gerade im Sport wird stets schnell und voreilig von einem Wunder gesprochen: zum Beispiel, wenn der Tabellenletzte den Spitzenreiter schlägt. Doch ist das wirklich ein Wunder? Eher nicht. Sonst hätte man ja kein Wort mehr für das, was der Handballer Karol Bielecki macht. Der Rückraumspieler der Rhein-Neckar Löwen ist auf einem Auge blind, wirft aber immer noch in der Bundesliga seine Tore. Diese Geschichte kann als Wunder bezeichnet werden, denn sie ist weitaus erstaunlicher als ein Sieg eines Abstiegskandidaten über einen Meisterschaftsanwärter.

Für die Löwen bedeutet das: Sie brauchen morgen (17 Uhr) im Viertelfinal-Rückspiel der Champions League bei Montpellier AHB kein Wunder, sondern nur eine Überraschung. Und eine solche geschieht weitaus häufiger als ein Wunder – erst recht bei den launischen Badenern. Nach der 27:29-Niederlage in eigener Halle sind die Gelbhemden zum Siegen verdammt, doch „die Aufgabe ist nicht unlösbar“, wie Rechtsaußen Patrick Groetzki sagt. In der Tat: Zwei Tore Rückstand sind kaum erwähnenswert.

Große Personalsorgen

Mit einer Chartermaschine machen sich die Löwen heute auf den Weg nach Südfrankreich: Sie haben Wut im Bauch, Wiedergutmachung im Sinn und das Final Four immer noch vor Augen. „Für uns ist nichts vorbei, sondern alles drin“, sagt Trainer Gudmundur Gudmundsson, der sich ungern an das erste Duell erinnert: „Wir haben in der zweiten Halbzeit mit zu viel Risiko gespielt. Das Problem lag nicht in der Abwehr, sondern im Angriff. Wir haben zu viele Bälle verloren.“

Allerdings sind bei den Gelbhemden die Personalsorgen weiterhin groß. Für Michael Müller ist nach einem Meniskuseinriss die Saison vorbei, Bjarte Myrhol steht aufgrund muskulärer Probleme nicht zur Verfügung. „Uns gehen die Stützen in der Abwehr aus“, klagt Gudmundsson, der auf eine Rückkehr von Børge Lund hofft.

Fest steht: Die Löwen haben in Montpellier nichts mehr zu verlieren. Und genau das könnte für sie ein Vorteil sein. Denn während die Franzosen nach ihrem Auswärtssieg favorisiert sind und Angst haben müssen, das sicher geglaubte Final-Four-Ticket noch aus der Hand zu geben, können die Badener ohne Druck aufspielen. Neben Herz und Leidenschaft, Taktik und Technik ist morgen vor allem auch mentale Stärke gefragt.

Montpelliers Trainer Patrice Canayer weiß um die komfortable, aber auch gefährliche Situation seiner Mannschaft und erwartet ein Duell auf Augenhöhe. „Zwischen den beiden Teams besteht kein großer Unterschied“, sagt der Franzose, während Löwen-Torwart Slawomir Szmal im Gegner keine unüberwindbare Hürde sieht: „Montpellier hat im Hinspiel Schwächen gezeigt, zum Beispiel in der ersten Halbzeit. Es fehlt ein wenig die Konstanz, vor allem wenn der Trainer durchwechselt. Wir können weiterkommen.“

Sind das etwa Durchhalteparolen? Eher nicht, denn die Gelbhemden können auf eine glänzende Auswärtsbilanz verweisen. „Wir haben in Kiel und Barcelona gewonnen. Warum sollte uns das nicht auch in Montpellier gelingen?“, unterstreicht Groetzki das nach wie vor nicht angekratzte Selbstbewusstsein der Löwen. Die Badener vertrauen auf ihre eigene Stärke und glauben an ihre Chance. Sie brauchen schließlich nur eine Überraschung – und kein Wunder.

Von Marc Stevermüer

 29.04.2011