Veröffentlichung:

Mehr Schlaf, mehr Leistung (MM)

Oliver Roggisch vom Handball-Bundesligisten Rhein-Neckar Löwen galt als Auslaufmodell. Doch er hat sein Leben umgestellt – und all seine Kritiker eindrucksvoll widerlegt. 

Es war im April 2011. Die Löwen freuten sich gerade über den sensationellen Auswärtssieg beim THW Kiel, als Alfred Gislason der guten Laune von Oliver Roggisch einen erheblichen Dämpfer verpasste. Der THW-Trainer, ein Fitness-Fanatiker vor dem Herrn und dazu ein Mann, der kein Blatt vor den Mund nimmt, schaute sich den freien Oberkörper des badischen Abwehr-Recken nicht nur ganz genau an, sondern musterte ihn förmlich. Und er stellte bei seinem prüfenden Blick fest, dass Roggisch doch ein paar Kilo zu viel auf den Rippen habe.

Wer Gislason kennt, der weiß, dass er gar nicht erst versuchte, lange um den heißen Brei herumzureden. Und so fielen seine eher drastischen Worte bei Roggisch gleich auf fruchtbaren Boden. Zu Hause folgten der Gang auf die Waage und ein Schock: 107 Kilogramm. „Für mich stand schnell fest, dass ich etwas ändern muss“, sagt der Weltmeister von 2007, der anschließend seine Ernährung radikal umstellte und zehn Kilo abnahm. Seitdem tut er mehr für sich als viele seine Kollegen: mehr Schlaf, mehr Regeneration, mehr Physiotherapie. Das Resultat ist bekannt: Die hartnäckigen Rückenprobleme sind weg, Roggisch spielt besser denn je. Er fühlt sich fitter, schneller, spritziger – und bekam vor dieser Saison einen neuen Einjahresvertrag bei den Löwen, die längst eine Herzensangelegenheit für ihn sind.

Die Etatreduzierung um zwei Millionen Euro nach dem Rückzug von Geldgeber Jesper Nielsen wirkte sich auch auf ihn aus. Roggisch geht mit den Gehaltseinbußen aber gelassen um: „Ich habe hier gutes Geld verdient – und jetzt ist es an der Zeit, auch einmal etwas zurückzugeben.“ Auf keinen Fall wollte er noch einmal sein privates Umfeld wechseln, zumal er auch seine berufliche Zukunft bei den Löwen sieht. Und fest steht schon jetzt: Seine Treue zu den Gelbhemden hat sich ausgezahlt, sportlich läuft es richtig rund. Nicht nur für ihn persönlich, sondern für die ganze Mannschaft.

„Mit jedem Sieg steigt das Selbstvertrauen. Das Training macht mehr Spaß, weil die Stimmung einfach sehr gut ist“, sagt das Kraftpaket, das längst nicht mehr so viele Zeitstrafen kassiert wie noch vor zwei, drei Jahren. Das liegt zum einen an ihm, weil er einfach schneller als früher auf den Beinen ist und deshalb selten zu spät kommt, um die Brandherde in der Deckung zu löschen – aber auch an den neuen Kollegen. Die Defensive, jahrelang das Sorgenkind der Löwen, ist zum Prunkstück geworden. Roggisch kämpft längst nicht mehr allein an allen Fronten: „Alexander Petersson ist ein überragender Abwehrspieler und Kim Ekdahl du Rietz körperlich sehr stark. Dazu haben Bjarte Myrhol und ich einen riesigen Schritt nach vorn gemacht, die Abstimmung passt jetzt noch besser. Und niemand sollte vergessen: Mit Goran Stojanovic und Niklas Landin haben wir zwei herausragende Torhüter. Wir wissen, dass wir auch mal einen Ball durchlassen können, weil da ein Weltklasse-Torwart zwischen den Pfosten steht.“

Roggisch verteilt das viele Lob auf alle Schultern – und doch ist seine persönliche Entwicklung erstaunlich. Mit 34 Jahren erlebt er gerade seinen zweiten Frühling, Bundestrainer Martin Heuberger machte ihn sogar zum Kapitän der Nationalmannschaft, auch wenn er das selbst nicht überbewerten will: „Bei uns kann jeder seine Meinung sagen.“ Und doch ist seine Ernennung bemerkenswert. Vor nicht allzu langer Zeit galt er als Rüpel und Auslaufmodell in der DHB-Auswahl. Aber all denen, die ihn schon abgeschrieben hatten, sagt Roggisch, wollte er es noch einmal beweisen. Er habe einmal erfahren müssen, dass es bergab gehe, um daraus wieder neue Motivation zu schöpfen, räumt der Blondschopf ein. Dass er kein Handball-Ästhet, sondern ein Handball-Athlet ist – mit dieser Rolle hat sich der Rechtshänder längst abgefunden. In seiner Brust schlägt ein Kämpferherz, er liebt das Duell Mann-gegen-Mann, das Ringen um jeden Zentimeter.

Die Schmerzen und Strapazen spürt der Abwehrmann mittlerweile deutlich intensiver als vor ein paar Jahren, ein Rücktritt aus der Nationalmannschaft kam aber beispielsweise niemals infrage. „Jedes Spiel mit dem Adler auf der Brust ist etwas Besonderes“, sagt Roggisch, der heute mit der DHB-Auswahl in der EM-Qualifikation in Israel gefordert ist.

Nach der Blamage gegen Montenegro ist der Druck groß: „Wir müssen ein anderes Gesicht zeigen.“ Klar ist: Der Blondschopf wird sich auch in dieser Partie wieder zerreißen. Der 34-Jährige genießt die Endphase seiner Karriere, weil er aus seinem Talent das Maximale herausgeholt hat. Nur ein Titel mit den Löwen fehlt ihm. „Deshalb muss ich noch ein bisschen weiterspielen“, sagt Roggisch und lacht. Fit genug ist er auf jeden Fall.

Von Marc Stevermüer