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Münzwurf zerstört Sesums großen Traum (MM)

Belgrad/Mannheim. Bengalische Feuer, emotionale Gesänge, gellende Pfiffe: Die Arena in Belgrad, sie war ein Hexenkessel, ein Pulverfass. Im Halbfinale der Handball-Europameisterschaft am Freitagabend zwischen Gastgeber Serbien und dem Erzrivalen Kroatien war die Stimmung auf den Rängen nicht nur aufgeheizt und aggressiv, sondern feindselig. Selbst nach dem Schlusspfiff und dem 26:22-Sieg der Serben mischte sich blanker Hass unter den Jubel der fast 20 000 Zuschauer.

Augenzeuge Storm

Die kroatischen Offiziellen und Spieler wurden beschimpft und attackiert, eine in Richtung des Trainers Slavko Goluza geworfene Münze traf indes nicht den Coach, sondern den serbischen Nationalspieler Zarko Sesum am rechten Auge. Nachdem der Rückraummann der Rhein-Neckar Löwen am Samstag nur sehr wenig sehen konnte, geht es ihm mittlerweile besser. Nach Angaben von Serbiens Handballverband hat der 25-Jährige eine Prellung des Auges und Kratzer auf der Hornhaut erlitten. „Die Verletzung ist nicht so gravierend, wie es zunächst schien. Die vordere Kammer des Auges ist mit Blut gefüllt, und es war sehr schmerzhaft für ihn, aber es wird keine weiteren keine Konsequenzen haben“, sagte Serbiens Nationaltrainer Veselin Vukovic.

Löwen-Geschäftsführer Thorsten Storm weilte am Freitag in Belgrad, erlebte die dramatischen Ereignisse hautnah mit. „Ich stehe in Kontakt mit Zarko. Er schreibt alle zwei Stunden eine SMS. Momentan sieht er auf dem verletzten Auge nur verschwommen, aber das liegt nach Auskunft der Ärzte wohl am Bluterguss. Es werden vermutlich keine Schäden bleiben“, atmete Storm erst einmal kräftig durch: „Es sieht danach aus, dass die ganze Sache noch irgendwie glimpflich ausgeht. Wir sind alle erleichtert.“ Im Laufe dieser Woche wird Sesum, der noch in einer Belgrader Klinik versorgt wird, zurück in der Rhein-Neckar-Region erwartet und dann erneut von einem Spezialisten untersucht.

Storm fühlte sich nach der ersten Hiobsbotschaft an Karol Bielecki erinnert. Der polnische Nationalspieler in Reihen der Löwen erblindete im vergangenen Jahr auf dem linken Auge. Der Rechtshänder hatte sich die Verletzung in einem Länderspiel – übrigens auch gegen Kroatien – zugezogen, als der Finger von Josip Valcic bei einer Abwehraktion Bieleckis Auge traf.

Nicht nur wegen Sesums Verletzung wird Storm die Begegnung vom Freitagabend nicht so schnell vergessen: „Die kroatischen Spieler wurden mit Laserpointern irritiert. Und ich möchte nicht wissen, was die von den serbischen Fans gesungenen Lieder bedeuteten.“ Zlatko Skrinjar, Offizieller der kroatischen Delegation, hatte dagegen ganz genau verstanden, was die Anhänger skandierten: „Die Atmosphäre und die Gesänge waren abscheulich. Sie riefen Mörder. Wir hatten das zwar erwartet, aber es macht uns trotzdem traurig.“

Auch Blazenko Lackovic, in der Bundesliga für den HSV Hamburg am Ball, reagierte geschockt. „Das ist eine Katastrophe, eine Tragödie für den Handball. Das ist verrückt, das sind keine Fans“, schimpfte der kroatische Rückraumspieler: „Die wollten eigentlich uns treffen, aber die haben den eigenen Spieler attackiert.“

Durch Sesums Verletzung platzte einer der größten Sportlerträume. Überraschend hatte Serbien das EM-Finale im eigenen Land erreicht, doch ausgerechnet in diesem Spiel konnte der 1,95-Meter-Mann nicht mitwirken, weil ihn ein Landsmann mit einem Münzwurf verletzt hatte. „Das ist unfassbar tragisch“, sagte Storm auch mit Blick darauf, dass es schon wieder den Rechtshänder erwischte: „Warum immer Zarko?“

Als Sesum noch das Trikot des ungarischen Spitzenklubs MKB Veszprém trug und mit einigen Kollegen am 7. Februar 2009 in einem Lokal feiern wollte, wurde aus dem anfangs fröhlichen Abend ein Drama, ein Horror-Szenario. Plötzlich stürmten rund 20 Männer in die Bar. Sie machten Krawall, zückten Messer und erstachen Sesums Mannschaftskollegen Marian Cozma. „Ein Freund von mir wurde aus dem Leben gerissen. Einfach so. Ganz unvermittelt. Die Zeit nach diesem schrecklichen Abend war verdammt hart für die ganze Stadt. Alle standen unter Schock“, sagte Sesum vor einigen Monaten dieser Zeitung. Er wurde bei dem brutalen Überfall schwer verletzt, die Angreifer traten auf ihn ein. Immer wieder. Unaufhörlich. Es grenzte an ein Wunder, dass sich der junge Mann „nur“ eine Schädelfraktur zuzog. Glück im Unglück – das hat der 25-Jährige nun ein zweites Mal gehabt.

Von Marc Stevermüer

 30.01.2012