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Von Emotionen überwältigt

Mannheim. Karol Bieleckis erstes Leben endet mit einem folgenschweren Unfall. Es ist nur ein Handball-Testspiel. Und es geht um nichts. Trotzdem passiert etwas Tragisches an diesem 11. Juni, der das Leben des sympathischen Rechtshänders auf den Kopf stellt. Bei einem Zweikampf mit dem Kroaten Josip Valcic verletzt sich der Pole schwer am linken Auge. Die Ärzte tun alles für die Gesundheit des Weltklassespielers, der 28-Jährige wird mehrmals operiert. Doch die Mediziner verlieren den Kampf, der Rotschopf erblindet halbseitig.

In der Tübinger Uni-Klinik wird Bielecki wenige Tage nach dem Unfall die traurige Nachricht überbracht. Die Ärzte sprechen vom Karriereende, doch davon will der 2,02-Meter-Hüne nichts wissen. Er ist immer ein Kämpfer gewesen – und er will es auch jetzt sein. Der Rückraumspieler nimmt sein Schicksal an, sein zweites Leben beginnt. Und er hat nur einen Gedanken: Er will unbedingt wieder Handball spielen und Tore werfen. Unterstützung erhält der Ex-Magdeburger dabei von seiner Familie und von seinem Klub, den Rhein-Neckar Löwen. „Wir haben ihm alle gesagt, dass er es packen kann, dass er wieder spielen wird“, erinnert sich Dr. Andreas Klonz, der Mannschaftsarzt des Bundesligisten.

Zweifel bleiben trotzdem, auch bei Bielecki selbst. Er zeigt meistens gute Leistungen in der Saisonvorbereitung, doch den Ernstfall kann man nur in einem Pflichtspiel proben. Gegen Frisch Auf Göppingen schickt Trainer Ola Lindgren den Rückraum-Schützen am Dienstag in der Bundesliga auf die Platte – und der Pole zeigt eine sensationelle Leistung. Elf blitzsaubere Treffer steuert er zum 28:26-Derby-Erfolg bei. Seit vorgestern weiß der 28-Jährige: Ich kann es noch. Meine Würfe sind hart und präzise. So wie früher, in meinem ersten Leben.

Die fast 10 000 Fans in der Mannheimer SAP Arena feiern ihren Helden, der vor Freude hemmungslos weint. Bielecki verschwindet schnell in der Kabine. Dort bleibt er lange sitzen, erst eine Stunde nach Spielschluss kommt der Pole wieder heraus. „Ich war sehr nervös. Zweieinhalb Monate wusste ich nicht, ob ich es wirklich schaffen kann. Jetzt habe ich Gewissheit und bin einfach nur glücklich“, sagt der Torjäger, der seine Leistung nicht überbewertet: „Jeder hilft mir auf dem Feld – und deshalb habe ich das Spiel gegen Göppingen auch nicht allein gewonnen. Es läuft gut bei mir, aber ich kann noch besser spielen. Mir fehlt noch ein wenig die Sicherheit.“

Hinter dem 100-Kilo-Mann liegen anstrengende Wochen, die Belastung ist immens – psychisch und physisch. Zunächst hat Bielecki mit Gleichgewichtsstörungen zu kämpfen, das Treppensteigen bereitet Probleme. Doch das ist mittlerweile vergessen. „Er hat riesige Fortschritte gemacht“, sagt Mannschaftsarzt Klonz, der mit dem Rechtshänder intensiv an der Wahrnehmungsfähigkeit arbeitet. Werfen und passen, alles wird mit Tennis- und Softbällen neu erlernt. Immer und immer wieder. Der Vize-Weltmeister von 2007 nimmt die Strapazen gerne auf sich: „Ich will nicht sagen: Danke, das war es. Ich will weiter Handball spielen.“

Für seinen verbissenen Kampf um die Karriere erntet der 28-Jährige Anerkennung und Respekt – sogar vom Gegner. „Karol ist ein toller Sportler. Ich freue mich für ihn, aber er hätte mit solch einer Leistung ruhig eine Woche warten können“, sagt Göppingens Trainer Velimir Petkovic in der Stunde der Niederlage, während wenige Meter weiter ein gerührter Löwen-Manager Thorsten Storm das Gesehene selbst kaum glauben kann: „Karol ist ein sehr sensibler Typ. Er hat nur den Handball, kommt aus einfachen Verhältnissen und nimmt sich vieles sehr zu Herzen. Er fokussiert sich eine ganze Woche auf so ein Spiel. Das ist der Mittelpunkt seines Lebens.“

Von Marc Stevermüer

 02.09.2010