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Wenn der Kapitän zum Leitwolf wird (Die Welt)

Linksaußen Uwe Gensheimer überrascht mit sensationellen Leistungen bei der Handball-WM

Wo ein Flaschenbier umgerechnet 8,50 Euro kostet, stößt auch ein ausgebuffter Profi an seine Grenzen. Uwe Gensheimer jedenfalls schüttelte bei der Frage nach der kleinen Entlohnung den Kopf und sagte: „Ein Feierabendbier wird’s nicht geben, das ist einfach zu teuer hier.“

Nun zählt Gensheimer nicht unbedingt zu den Spielern im deutschen Handball-Nationalteam, die vermehrt auf den Euro schauen müssen, seit seiner Vertragsverlängerung vor einem Jahr gilt der Linksaußen der Rhein-Neckar Löwen als einer der bestbezahlten Profis der Bundesliga. Aber da es Alkohol im WM-Spielort Doha nur in ausgewählten Hotels zu vermeintlichen Wucherpreisen gibt, mag er das Spielchen nicht unbedingt mitmachen. Er ist da eben auch als gebürtiger Mannheimer nah dem Schwabenland aufgewachsen, und da schauen sie doch schon mal genauer hin.

Möglicherweise wird Gensheimer (28) die Abstinenz in Katar noch einmal überdenken, vielleicht bietet ihm sich bei den globalen Titelkämpfen noch so manche Gelegenheit, gebührend auf einen Sieg anzustoßen. Denn der Auftakt der WM in Katar mit Siegen über Polen (29:26) und Russland (27:26) war verheißungsvoll und ganz vornweg gibt der Kapitän die Richtung vor.

Dass Gensheimer ein außergewöhnlicher Spieler mit den wohl besten Wurfvarianten der Welt ist, hat er schon seit Jahren ausgiebig bewiesen. In Katar aber scheint Uwe Gensheimer endlich auch in die Chefrolle hineingewachsen zu sein. Gegen Polen spielte er mit einer Wurferfolgsquote von 64 Prozent schon stark, gegen Russland überragte er mit neun Toren und einem unfassbaren Trefferwert von 90 Prozent.

Die erste Hälfte, als die Deutschen mit vier Toren hinten lagen, sei schlecht gewesen. „Aber das war auf gut Deutsch gesagt scheißegal, denn der schnelle Ausgleich nach der Pause war der Schlüssel zum Sieg. Natürlich ist uns ein riesiger Stein vom Herzen gefallen.“

Wohl auch deshalb, weil einigen im Lager der deutschen Handballspieler die Teilnahme an der Weltmeisterschaft in Katar noch immer vorkommen muss wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Denn die besten Ballwerfer des Landes waren im Sommer in der WM-Qualifikation grandios gegen Polen gescheitert, aber dank einer umstrittenen Wildcard durften sie doch noch in den Wüstenstaat reisen.

Der Weltverband IHF wollte sich offenbar kein weiteres Turnier ohne die Auswahl des stärksten Mitgliederverbandes leisten. Deutschlandhatte bereits die Olympischen Spiele 2012 in London und die Europameisterschaft im vergangenen Jahr in Dänemark verpasst.

Nun steht der gefühlt zehnte Neuanfang seit dem WM-Gewinn im eigenen Land 2007 an. Gensheimer wurde in jenem Jahr zum besten Spieler der Junioren-WM gekürt, bei den Männern aber standen einige seiner 100 Länderspiele unter keinem guten Stern. „Über die Vergangenheit wollen wir gar nicht mehr so viel nachdenken“, sagt der Linksaußen. Von Spiel zu Spiel schauen und so weiter, üblicher Sportlerduktus eben. Da bildet auch Gensheimer keine Ausnahme. Deswegen wolle er auch keine Prognose wagen für das morgige Spitzenspiel der Gruppe D gegen Dänemark.

„Die Dänen wissen ungefähr, was wir spielen, und wir wissen, was die Dänen spielen. Es wird wie immer darauf ankommen, dass du im Spiel die richtigen Entscheidungen triffst“, sagt Gensheimer, den die deutschen Fans in Anlehnung an den Ex-Fußballstar Uwe Seeler gern mal „Uns Uwe“ nennen.

Andere im deutschen Team sind da nach dem famosen Auftakt weitaus forscher. „Der Druck liegt jetzt auf jeden Fall bei den Dänen und nicht bei uns“, sagte Carsten Lichtlein, der erneut starke Torwart. Und Gensheimers Teamkollege bei den Rhein-Neckar Löwen, Stefan Kneer, sagte nach dem starken Auftritt gegen Russland: „An solchen Spielen kann jeder Handballspieler wachsen.“

Genau das müssen die deutschen Spieler samt ihrer Entourage wohl auch noch ein wenig. Nach der Runderneuerung im Verband mit einem neuen Präsidium und einem neuen Bundestrainer ist erst einmal Konstanz in der Weltspitze gefragt. „Du kannst fünf Gruppenspiele gewinnen, und wenn du dann im Achtelfinale verlierst, war es das“, gibt auch Ulrik Wilbek, Dänemarks Sportchef, zu bedenken. Aber der Start der Deutschen sei auch für ihn durchaus überraschend gewesen.

Ein Urteil, das wohl auch die meisten deutschen Handballfans teilen. Immerhin verzeichnet der Pay-TV-Sender Sky mit der erstmaligen Übertragung einer Handball-WM bislang gute Quoten. Mehr als 300.000 Fans haben den zweiten Sieg der deutschen Mannschaft verfolgt. Morgen dürfte es bei der Partie gegen Dänemark erneut eine Bestmarke geben. Und vielleicht ein weiteres Spektakel. Bundestrainer Dagur Sigurdsson jedenfalls verspricht: „Wir wollen wieder volle Pulle angreifen.“

Von Jens Bierschwale