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Wie im Film: Michael Müller und die Löwen im Höhenrausch

Historische Löwen – Löwen-Historie, Teil sechs: Die Jahre 2009 bis 2012 aus Sicht des „Raubeins“ mit der linken Klebe

Michael Müller nimmt Maß.

Im Sommer 2009 wird Michael Müller ein Rhein-Neckar Löwe. Ein Satz, über den er heute noch stolpert. Im Grunde, verrät der Mann, den sie alle nur Michi nennen, fragt er sich noch immer, wie schnell das alles hatte passieren können. „Drei Jahre davor habe ich noch mit Bayreuth vor 300 Leuten Regionalliga gespielt. Plötzlich stand ich vor Olafur Stefansson in der Löwen-Kabine“, sagt der heute 39-Jährige über den 25-jährigen Michi. Und ja, es sei gewissermaßen zu schnell gewesen: Wie im Film.

2006 hatte Michael Roth seinen Namensvetter aus Bayreuth nach Großwallstadt geholt und dem Amateurhandballer Michi Müller mit einem festen Ruck das Tor zum Profi-Sein aufgestoßen. Nach nur einer Saison war Müller Stammkraft beim traditionsreichen TVG, machte 2007/08 140 Buden, 2008/09 164. Ohne einen Siebenmeter. Der für heutige Verhältnisse spätberufene Halbrechte reift unter Roth zum Nationalspieler, kommt insgesamt auf stolze 78 Länderspiele. Schorle Roth habe er sehr viel zu verdanken – das werde er niemals vergessen, sagt Müller mit Nachdruck.

Müllers Aufstieg, er verläuft erstaunlich parallel zu dem der Löwen. Nach dem Wiederaufstieg 2005 geht es für den erst 2002 gegründeten Klub ohne Anlauf zweimal in Folge ins Pokalfinale sowie 2007/08, im dritten Bundesliga-Jahr, ins Finale des Europapokals der Pokalsieger. In der Saison 2008/09 fahren die Löwen mit Rang drei das bis dahin beste Bundesliga-Ergebnis ihrer jungen Geschichte ein. Die Champions League, in der man vier Jahre nach dem Wiederaufstieg Premiere feiert, wird zu einem einzigen Rauscherlebnis. Im Halbfinale muss schon der THW Kiel kommen, um die Märchenreise der Löwen zu beenden.

Im Sommer 2009 also kreuzen sich die Wege der beiden Senkrechtstarter Michael Müller und Rhein-Neckar Löwen. Es ist die Hochzeit von Investor Jesper Nielsen. Der Löwen-Kader ist gespickt mit Top-Stars. Im Tor und am Kreis stehen die WM-Helden von 2007 Henning Fritz und Oli Roggisch. Ebenfalls im Tor der angehende Welthandballer Slawomir Szmal.  Und, auf der Müller-Position, kein Geringerer als Olafur Stefansson. Nicht wenige sagen, dass der Isländer der beste Halbrechte aller Zeiten ist. Was er definitiv ist: Müllers Gespannpartner für die nächsten beiden Löwen-Jahre.

Wie im Film: Michael Müller trifft auf Olafur Stefansson

Champions League gegen Kielce mit Michael Müller.

Dass es zwischen dem Nobody aus Bayern und dem viermaligen Champions-League-Sieger, der damals vom Real Madrid des Handballs, BM Ciudad Real, kam, kein Duell auf Augenhöhe geben würde um Spielzeiten und dergleichen, das dürfte dem jungen Michael Müller bewusst gewesen sein. Zumindest irgendwo tief im Inneren. Der damals 25-Jährige aber war ehrgeizig, voller Tatendrang, wollte eine große Rolle spielen, egal bei welchem Klub. Und egal bei welcher teaminternen Konkurrenz.

„Ich habe das damals, in den jungen Jahren und nach diesem schnellen Aufstieg, einfach nicht in seiner Gänze überblicken und durchblicken können“, versteht der Michael Müller von heute. Damals gab es statt Verständnis und Verarbeitung nur jede Menge Frust. Zum ersten Mal das Gefühl: Es geht nicht ständig bergauf. „Das war natürlich keine leichte Zeit“, erinnert sich Müller. Nach der ersten Saison in der ungeliebten Back-up-Rolle wurde es noch schlimmer: Im September 2010 reißt das vordere Kreuzband im rechten Knie. Nach nicht einmal einem Monat ist die Spielzeit für den Linkshänder praktisch vorbei.

Aber Moment. Aus und vorbei ist da noch gar nichts. Der Kämpfer Michael Müller stellt sich auf die Hinterbeine, schuftet hart in der Reha. Denn da gibt es diesen einen Traum. Seine Löwen schicken sich an, ein zweites Mal binnen drei Jahren unter die besten Vier der Champions League zu kommen. Und dieses Mal ginge es zum frisch gegründeten Final4 nach Köln. In den Tempel des Handballs. Vor über 19 000 Leute. Ein Traum, der Wirklichkeit wird. Durch einen spektakulären Kantersieg über Montpellier HB im Viertelfinale lösen die Löwen das Ticket für Köln. „Was wir dort erlebt haben, wie diese unfassbare Arena wirkt, das werde ich nie vergessen. Das kommt mir bis heute wie ein Film vor. Das konnte ich alles gar nicht aufnehmen“, erinnert sich Michi Müller an das sportliche Highlight seiner Karriere.

Dass man sich im Halbfinale gegen den FC Barcelona großartig verkaufte, knapp verlor und sich auf europäischer Bühne einmal mehr Respekt verdiente, Müller gar ein Tor erzielte und damit genauso oft traf wie Kumpel Patrick Groetzki: All das sind im Nachhinein Randnotizen. Was bleibt, seien diese Gefühle. Dieses Gefühlschaos. Das Überwältigt-Sein vom Moment. So etwas erleben zu dürfen, sei ein Privileg. Eines, das ihm ohne die Löwen nie zuteilgeworden wäre. Nicht allein deswegen habe er seinen Frieden mit dieser Zeit in seiner Karriere gemacht.

Wie im Film: Michael Müller und die Löwen im Höhenrausch – alles eine Frage des Timings

Michael Müller nimmt es mit drei Gegenspielern auf.

„Im Sport ist das einfach ganz normal, da ist Vieles eine Frage des Timings: Man kann zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein – oder eben nicht. Im Nachhinein betrachtet wäre ich besser zwei Jahre später zu den Löwen“, so ein nachdenklicher und erfrischend ehrlicher Michi Müller. Und tatsächlich: In das Team, das ab 2012 um Uwe Gensheimer und Patrick Groetzki gebaut wird, in dem bald Andy Schmid genial Regie führt, Kim Ekdahl du Rietz, Alex Petersson und Bjarte Myrhol glänzen und ein junger Niklas Landin allen zusammen den Rücken freihält; in dieses Team hätte ein Charakter wie Michael Müller hervorragend gepasst.

Das Credo des Handballarbeiters ist so simpel wie überzeugend: „In den 60 Minuten, in denen es auf dem Feld gilt, gebe ich alles für den Erfolg meiner Mannschaft.“ Alles heißt in diesem Fall: alles. Da kracht es richtig, wo es sonst nur leise scheppert. Da ist auch viel dabei, auf das Michael Müller heute so gar nicht stolz zurückblickt. „Ich bin immer noch dabei, mich für Aktionen zu entschuldigen“, gesteht der damals im Rufe eines unverbesserlichen Raubeins Stehende in der Rückschau. „Das war vollkommen drüber, da müssen wir nicht drumherum reden.“

Nach seiner letzten Löwen-Saison 2011/12 verbringt er ein Jahr bei der HSG Wetzlar. 2013 geht es zur MT Melsungen und damit zu seinem einstigen Entdecker Michael Roth. Nicht zuletzt unter seiner fleißigen Vorarbeit erarbeitet sich der Klub das Image einer sogenannten Kloppertruppe. Insbesondere wenn es gegen die Löwen geht, ist Michi Müller nicht mehr zu halten. „Das war dann noch einmal mehr und natürlich viel zu viel. Ich wollte es unbedingt allen dort zeigen, dass man sich damals vertan hatte mit mir und man besser mehr auf mich gesetzt hätte.“ Müller & Co. begründen damit eine Rivalität, die bis in die Gegenwart reicht und, wenn man ehrlich ist, das Fan-Leben bereichert.

Wo Reibung ist, entsteht Energie. Und Michael Müller ist in dieser Hinsicht ein Dynamo. Er kann ganze Mannschaften antreiben. Seine Leidenschaft ist ansteckend, aber keinesfalls böswillig. „Nach dem Spiel bin ich der erste, der mit meinen Gegenspielern ein Bier trinken möchte“, sagt Müller so glaubwürdig, wie man das nur sagen kann. Dass sich nicht alle versöhnlich zeigen, vor allem die Fans gerne nachtragend sind, damit hat er am Ende seiner aktiven Laufbahn Bekanntschaft gemacht. Im Oktober 2021 hilft der eigentlich schon nicht mehr Aktive bei der SG Flensburg-Handewitt aus. „Noch bevor ich meinen ersten Ball geworfen hatte, haben mich die Fans als H…sohn beschimpft – und zwar die von Flensburg.“

Wie im Film: Beleidigt von den eigenen Fans

Michael Müller auf dem Golfplatz.

Die zahlreichen Duelle mit der MT und Michael Müller, damals meist im Bunde mit Zwillingsbruder Philipp, die haben die SG-Anhänger nicht vergessen. Ganz im Gegenteil. Auch das gibt es, auch das nimmt der reifere und ruhigere Michi mittlerweile gelassen. Damals war das Öl in sein Feuer – und er genoss es, die Flammen lodern zu sehen. „Das war einfach meine Art, Handball zu spielen. Das war niemals böse gemeint. Es ging darum, Spiele zu gewinnen.“ Wer wie die allermeisten Sportfans gerne beklagt, dass in der heutigen Zeit die Typen fehlen, die Leute oft zu glatt und langweilig seien, der sollte diesen Gedanken bei der gesamthaften Bewertung von Spielern nicht vergessen und sich bewusstmachen: Wer Ecken und Kanten möchte, sollte keine Angst davor haben, sich zu stoßen.

Im Dezember 2021, nach drei Monaten SG-Aushilfe, hängt Michi Müller dann aber endgültig die Handballschuhe an den Nagel. 37 Jahre ist er alt und weiß: Es ist Zeit für etwas Neues. Den Kontakt zum Handball verliert er nicht. Er lebt mittlerweile in Handewitt. Die Liebe hat ihn dorthin geführt. Michi ist mit Kaja Schmäschke verheiratet, der Tochter des einstigen SG-Geschäftsführers Dierk Schmäschke. Mit den gemeinsamen Kindern genießen sie das Leben an der See. Müller findet einen Job bei der Sparkasse, betreut dort das Sponsoring der SG Flensburg-Handewitt. Schöne kleine Handball-Welt.

Mit seinem geliebten Sport bleibt Michael Müller also weiter verbunden. Und doch kann er sich noch viel mehr vorstellen. Nicht als Profi-Trainer, dafür habe er die Reiserei und Job-Unsicherheit doch satt genug. Aber in einer anderen Funktion, im Team hinter dem Team, auf einer Geschäftsstelle, vielleicht auch als Jugendtrainer. „Handball ist und bleibt mein Leben, da habe ich einfach nach wie vor die größte Freude dran“, sagt der Wahl-Handewitter, der gebürtig aus Würzburg stammt. Man darf gespannt sein, wo im Handball man diesen einzigartigen Typen wieder treffen wird.

Zur Person: Michael Müller

  • geboren am 19. September 1984 in Würzburg
  • 2008 Debüt in der deutschen Nationalmannschaft
  • wechselt 2006 aus der Regionalliga in die Bundesliga
  • 2009 kommt er für drei Jahre zu den Löwen
  • arbeitet heute bei der Sparkasse und betreut dort das Sponsoring der SG Flensburg-Handewitt

Zur Serie: Historische Löwen – Löwen-Historie